Das Sterbeverlängerungskartell

Der Palliativmediziner Matthias Thöns erhebt schwere Vorwürfe ­gegen das Geschäft an Todkranken.

Ich mochte es nicht glauben. Anja (Name geändert) berichtete mir, wie es ihrem Schwiegervater beim Sterben in der Schulmedizin ging. Der erste Arzt in der kardiologischen Abteilung der Klinik berichtete ihr und ihrem Mann, der Zustand des alten Professors sei kritisch. Die Blutbahnen seien alle »verkalkt«. Die Patientenverfügung, also die Ablehnung sinnloser Maßnahmen der Lebensverlängerung, hatte Anjas Mann in der zuständigen Station abgegeben. Nun saßen die beiden vor drei Ärzten, um das unausweichliche Finale des Patienten zu besprechen. Anja: »Ein Arzt riet uns dringend, dem Todgeweihten noch vier Stents zu setzen. So ganz nebenbei erfuhren wir, dass mein Schwiegervater schon reanimiert, künstlich ­beatmet und an vielen Maschinen angeschlossen worden war.« Erst auf die energische Forderung von Anjas Mann »Schluss jetzt, Maschinen abstellen!« reagierte das Ärztetrio. Anja: »Sonst hätten die Halbgötter in Weiß weitergemacht, obwohl sie wussten, dass alle Blutbahnen dicht waren. Besonders die Aorta war stark verkrümmt und betroffen.

Wir wurden zu meinem Schwiegervater gebracht. Dort sagte uns die Schwester, dass der Patient so lange mit den Maschinen versorgt werde, bis es zum Herzkammerflimmern komme. Meine große Tochter fragte, ob der Opa denn so leiden müsse. Ein zweites Mal musste mein Ehemann als Sohn auf die Ausschaltung der Maschinen dringen: Unheimlich war, dass der tote Vater/Opa vor uns lag und ungefähr
fünf bis zehn Minuten nach seinem Tod immer noch künstlich beatmet wurde, bis auch diese Maschine abgestellt wurde. Dann hatte er endlich Frieden, dank seinem tapferen, mutigen Sohn.« Der Professor war Privatpatient. Das zeigte sich dann auch an der Rechnung für genau sechs (!) Stunden Klinikaufenthalt und »Therapie«: 19 000 Euro.

Einzelfall?

An einen Zufall mag man nicht mehr glauben, wenn man die Dokumentation des Arztes Matthias Thöns Patient ohne Verfügung. Das Geschäft mit dem Lebens­ende studiert. Der humanistische Mediziner ist im Ruhrgebiet als Anästhesist und als niedergelassener Narkose- und Palliativarzt tätig. Er ist stellvertretender Sprecher der Landesvertretung NRW der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin und war Sachverständiger im Rechtsausschuss des Deutschen Bundestages zur Sterbehilfe-Debatte.

Der Arzt ist kein Gegner der Intensiv- und Hightech-Therapie. Allen Missverständnissen beugt er mit den Worten vor: »Natürlich ist es in jedem Fall richtig, zunächst alles Erdenkliche zur Lebensrettung zu tun, Notopera­tionen durchzuführen und auch eine Intensivbehandlung mit Beatmung zu beginnen. Doch wenn die Diagnose eine schwere irreversible Schädigung des Hirns ergibt, sind Gespräche über
das weitere Vorgehen, über die verbleibenden Therapieziele unausweichlich.« Der erfahrene Praktiker warnt ­jedoch vor dem Missbrauch der maschinellen Belüftung Schwerstkranker ohne Bewusstsein. Es ist im doppelten Sinn des Wortes ein todsicheres Geschäftsmodell, stationär wie ambulant: 1600 Euro pro Tag für die stationäre Beatmung – das rechnet sich. Thöns präsentiert eine reale Klinikabrechnung aus dem Jahr 2014: »Hier wurde binnen achtzig Tagen allein für die Beatmungsbehandlung ein halbes Eigenheim erwirtschaftet – und das nur mit einem Patienten.« Die Klinik berechnete 127 000 Euro. Intensivbehandelte lassen die Kassen klingeln. Matthias Thöns: »Ich hatte einen Fall, der mich besonders betroffen gemacht hat. Ich wurde zu einem Mann gerufen, der zu Hause beatmet und künstlich ernährt wurde. Er litt an ALS, war seit Monaten nicht mehr aufgewacht, er war fast achtzig Jahre alt. Ich höre sehr oft von Angehörigen, dass die Beatmeten selbst so nie hätten enden wollen. Das sagte mir auch seine Frau. Im Krankenhaus hatte man ihr aber gesagt, es sei Mord, wenn man die Beatmung einstellt.« War es Mord? Thöns: »Natürlich nicht. Dieser Mann war nur noch am Leben, weil es diese Apparate gibt. Er hatte keine Chance, wieder aufzuwachen. Wenige Tage nach dem ersten Treffen rief die Intensivschwester an, die den Mann betreute. Mit dem Beatmungsgerät
stimme etwas nicht. Ich fuhr hin und stellte fest, dass der Patient bereits am Vortag gestorben war. Die Leichenstarre hatte schon eingesetzt, und das Gerät arbeitete dagegen an. Er war bereits in den Monaten zuvor so wenig am Leben gewesen, dass man gar nicht bemerkt hatte, dass er gestorben war.«

Achtung, Pflegeheim!

Es drängt sich der Eindruck auf, mit Wachkomapatienten kann man es ja machen, vor allem wenn sie keine Pa­tientenverfügung hinterlassen haben. Der Fall Birgit zeigt die Wehrlosigkeit dieser armen Patienten. Thöns berichtet über Birgit (die Namen sind immer geändert), eine 55-jährige Kunsthistorikerin. Der Mann hat sie leblos vor dem Spiegelschrank gefunden. Die notärztliche Reanimation mit zwölf Elektroschocks und Einführen des Beatmungsschlauches hat zu einem irreversiblen Hirnschaden geführt. Die behandelnden Ärzte sind illusionslos: Birgit wird nicht mehr aufwachen. Thöns sieht
klar: »Birgit wird nie wieder mit der Um­­welt Kontakt aufnehmen, nie wieder selbst schlucken, nie wieder Stuhl- oder Urinabgang kontrollieren können, sie entwickelte eine ausgeprägte schmerzhafte Spastik (von griechisch spasmos, Krampf – M. J.). Immer wieder bilden sich eiternde Druckgeschwüre und schlimmste Gelenkfehlstellungen von Armen, Händen, Fingern, Beinen, Füßen und Zehen. Dabei krallen sich die Finger so stark in die Handflächen, dass es auch dort immer wieder zu nässenden Infektionen kommt.«

Dabei ist die Todkranke durchaus für Schmerzen empfindungsfähig. Thöns: »Als die Krankenschwester hereinkommt, um die Atemwege abzusaugen, bäumt sich Birgits Körper auf. Die ganze Visite über wird sie sich von dem Schock nicht erholen. Auch die Pflegeberichte bestätigen meinen Eindruck: Die Patientin kann über Mimik und Ge­stik Unwohlsein äußern. Sie hat am ganzen Körper Schmerzen, ist sehr ange­spannt und verschwitzt, äußert Schmer­zen durch vermehrten Speichelfluss. Ihre Medikation besteht aus Herz-, Lungen- und Magenschutzmitteln, künstlicher Ernährung und wiederkehrenden Gaben von Antibiotika.« Der Sohn der dahinvegetierenden ­ Mutter erinnert sich an die Aussagen seiner Mutter in gesunden Tagen: »Nein, richtig alt möchte ich nicht werden, schau dir doch manche 80-jährige an, die nichts mehr selbst können und nur noch vor sich hinvegetieren. Ist das schön? Nein, so möchte ich nicht leben.« Warum hält man Birgit mit künstlicher Beatmung und Sondenernährung auf Biegen und Brechen am Leben?

Vom Hausarzt erfährt der Palliativmediziner die eigentlichen Gründe: Es existiere keine Patientenverfügung, also müsse alles Menschenmögliche zur Lebenserhaltung getan werden: »Zudem gebe es in dem Heim, in dem Birgit untergebracht sei, mindestens vierzig Patienten, denen es noch schlechter gehe als ihr. Dann endlich redet Dr. G. mir gegenüber nicht länger um den heißen Brei herum. Der Träger betreibe schließlich noch zwei weitere Pflegeheime in der Ortschaft und würde – wie übrigens auch er selbst – im Falle einer Therapiebegrenzung eine Menge Patienten verlieren.«

Da steckt Heuchelei dahinter. Thöns berichtet: »Es wird reflektorisch auf das christliche Menschenbild gepocht, die nicht Verfügbarkeit des von Gott geschenkten Lebens. Im Besonderen ­Kirchenfunktionäre melden sich gern dröhnend zu Wort, etwa bei der Diskussion um das Patientenverfügungsgesetz 2009 in Deutschland. Dort mühte sich eine kirchliche Lobby massiv, eine Reichweitenbeschränkung der Geltung von Patientenverfügungen auf finale Krankheitssituationen zu erwirken. Im Klartext: Eine Patientenverfügung sollte nur im Fall unmittelbarer Todesnähe gelten – und nicht etwa bei einer langsam nahenden unheilbaren Krankheit.« Die Pointe: »Ein Schelm, wer denkt, es gebe bei Kirchenfunktionären ein Interessenkonflikt: Allein der Deutsche Caritasverband betreibt insgesamt vierzehn Prozent aller Pflegeheime, also etwa 1400 Einrichtungen. Je mehr Pflegebedürftige, desto mehr Umsatz.«

Was aus Birgit geworden ist? Sie wurde in eine Pflegeeinrichtung überführt, die sich an das Grundgesetz und höchstrichterliche Entscheidungen hält: »Im November 2015 traf Birgit im zweihundert Kilometer entfernten Witten ein. Die künstliche Ernährung und Sauerstoffzufuhr wurde beendet. Sie erhielt nur noch die erforderlichen Dosen von Schmerz- und Krampflösungsmedikamenten. Nun durfte Birgit endlich, so wie sie es sich gewünscht hätte, unter guter Leidenslinderung, in Anwesenheit ihres Ehemannes und ihres Sohns sterben. Zuvor hatte sie beinahe ein Jahr lang unvorstellbar leiden ­müssen.«

Blut ist ein ganz besonderer Saft

Und ein kostbarer dazu. Die Dialyse ist, so Thöns, das zweitteuerste ambulante Einzelverfahren mit Jahreskosten von 50 000 Euro. Thöns: »Bei rund 70 000 Dialysepatienten im Lande schlägt diese Therapie also mit 3,5 Milliarden Euro Umsatz zu Buche, zuzüglich der Medikamentenkosten. Der Gewinn wird mit jährlich 10 000 Euro pro Patient beziffert. Bei Verkauf einer Dialysepraxis werden als Wert zwischen 25 000 und  40 000 Euro für jeden, der sich sein Blut hier waschen lässt, angegeben. Eine Landarztpraxis gibt es dagegen schon für weniger als 1 Euro pro Patient, teils gibt sogar die Kommune noch einen
­Zuschuss. Die Dialysepraxis dagegen bringt bei hundert Patienten mehrere Millionen Euro Praxiswert, dazu kommen dann noch die Kosten für die Geräte.«

Sicher ist die Dialyse in unzähligen Fällen ein Segen positiver Lebensverlängerung, aber ist sie gegen den Willen eines Menschen indiziert, der mit dieser Maschine nicht mehr leben will? Wie immer in seiner verantwortungsvollen Dokumentation erläutert der Palliativmediziner die Problematik mit  einem Patientenbeispiel: »Auch dem  74-jährigen Imker Felix blieben die Lasten der Dialyse nicht erspart. Wegen schwerer Durchblutungsstörung, Herzschwäche und Nierenversagen war er schon seit Langem ans Krankenbett in einem Pflegeheim gefesselt. Die drei Termine pro Woche an der Dialysemaschine mit all den Komplikationen, all der Notversorgung in der Klinik hatte er einzig als Horror empfunden. Die Lebensfreude sank und sank. Obgleich die Familie ihn vielfach besuchte und alles nur Erdenkliche anstellte, um ihn  ufzuheitern. Vergebens! Anfang Februar 2015 entschloss er sich, die Dialyse zu beenden. Er wollte nun sterben.«

Dr. Thöns und sein Palliativteam versuchten, das Gemüt des Geschundenen mit einer Gesprächstherapie  und durch die Gabe von Antidepressiva aufzuhellen – sein Entschluss aber blieb. Darauf setzten sie sich mit dem Dialysearzt in Verbindung: »Er rebellierte heftig. Ob wir den armen Mann denn umbringen wollten? Und in der Tat, bei absoluter Dialysepflicht führt der Abbruch der Behandlung in aller Regel binnen ein bis zwei Wochen zum Tod, der bei professioneller palliativmedizinischer Begleitung allerdings beschwerdearm verläuft.« Das Palliativteam setzte sich durch, und es war gut so: »Doch das Leben fern von der verhassten Maschine, die vermehrte Zuwendung von uns, aber vor allem von seinen Angehörigen, hat ihm Freude gemacht – der altersschwache Imker lebte noch bis in den späten Mai. Dann bescherte ihm eine akute Herzrhythmusstörung einen schmerzfreien  Sekundentod.«

 Immer Bestrahlung?

Die Hälfte aller Strahlentherapieverfahren kommt, wie Thöns erläutert, korrekt im Rahmen der heilenden Krebsmedizin zum Einsatz. Das geschieht bei Pa­tienten, deren Karzinom noch nicht gestreut hat. Hier kann man mit gezielten und hohen Dosen möglichst alle Tu­morzellen zerstören. Aber, und dieses »Aber« ist entscheidend, das gilt nicht bei Betroffenen, bei denen sich bereits Metastasen gebildet haben. Thöns: »In diesem Stadium ist fast jeder Krebs unheilbar, Medizin kann den Tumor aufhalten, ihn sogar für eine gewisse Zeit zurückdrängen. Ganz zu stoppen ist er aber nicht mehr. In solchen Fällen ist das Ziel die Verkleinerung und die Druckreduzierung bei Knochen- oder Hirnmetastasen. Das ist aber sinnvoll, wenn die entlastende Wirkung, die, wenn überhaupt, erst nach Monaten eintritt, noch vom Pa­tienten erlebt werden kann. Dazu hatte etwa die Patientin Beate keine Chance. Das macht ihren wie viele andere Fälle so empörend. Thöns: »Nahezu alle Körperregionen waren von Krebs durchsetzt: die Lymphgefäße, die Lunge, die Leber, die Knochen, Bauch- und Rippenfell, die Milz und auch das Hirn. Überall Metastasen! Man sah es auch: Von der linken Achselhöhle ausgehend bis zum Hals war ein Krebsgeschwür aus der Haut herausgebrochen. Beate wollte nur noch eines: heim zu ihrer Familie!«

In der Klinik wurde Beate bedeutet, es sei unbedingt sinnvoll, den Kopf zu bestrahlen, um des Tumors Herr zu werden. Die Operation überstand Beate, ohnehin ans Bett gefesselt, schlecht: »Doch die folgenden Bestrahlungen waren eine Tortur, die Lagerung auf dem harten, ungepolsterten Karbon des Bestrahlungstisches, das ewige Stillhalten. Sie winselte nur noch: Lasst mich doch endlich nach
Hause! Aber ihr Strahlenarzt kannte kein Pardon. Nein, die Serie müsse beendet werden, sonst würden die Hirnmetastasen den Kopf zum Platzen brin­gen.« Widerspruch schien zwecklos. Endlich entließen die behandelnden Ärzte Beate, schwerst pflegebedürftig, halbseitig gelähmt, bettlägerig, nach Hause. Ihr war übel, sie erbrach, scharfe Schmerzen quälten sie: »Aber das Krankenhaus hatte weder ein Pflegebett, noch einen Toilettenstuhl, noch die für das Wochenende notwendigen Medikamente organisiert. Sonntag dann meldete sich die verzweifelte Familie schließlich über unsere Palliativnetz-Notrufnummer.«

Das war trotz der Hoffnungslosigkeit der Situation ein Segen: »Viel konnten wir nicht mehr tun. Immerhin gelang es uns noch, die Übelkeit und den Schmerz zu lindern. Beate starb friedlich im Beisein von Töchtern, Schwiegersöhnen und den beiden kleinen ­Enkelkindern. Seit der Entlassung aus dem Krankenhaus waren vier Tage vergangen, die Wunden der Hirnoperation waren noch nicht verheilt.« Fazit:
»Von dem unnötigen Eingriff haben allein die Ärzte und die Klinik profitiert. Gleiches gilt für die Chemotherapien in den letzten Lebensmonaten – und erst recht für die widersinnige strahlentherapeutische Wiederholungstortur.«

Ich selbst erinnere mich an meinen Vater, der als Arzt von seinen Kollegen jede erdenkliche »Hilfe« bekam, aber unter dem Erbrechen beim »Strahlenkater« grässlich litt und mit seinem metastasierenden Krebs seinen vorhersehbaren Tod nicht wesentlich herauszuschieben vermochte.

Fluch und Segen der PEG-Sonde

Was für die Bestrahlungswut gilt, gilt natürlich auch für den Einsatz der Chemotherapie. Die todkranke Annette war ein lebendes Skelett. Sie wog nur noch 44 kg bei einer Größe von 1,71 cm. Sie litt unter Druckgeschwüren, Darmverschluss mit Koterbrechen und Stuhlverhalt. Der behandelnde Krebsspezialist selbst diagnostizierte: »Eine Fortsetzung der Chemotherapie ist nicht mehr sinnvoll.« Gleichwohl bestellte er Annette darauf in das Tumorzentrum und begann mit einer weiteren Chemotherapie. Im elenden Zustand wurde sie nach Hause entlassen. In der darauffolgenden Nacht erlebte sie eine Schmerzkrise mit akuter Atemnot und Erbrechen. Der Notarzt wurde verständigt. Nun schalteten die Angehörigen das Palliativnetz ein: »Als diensthabender Arzt komme ich augenblicklich und übernehme die weitere Behandlung. Annette sagt: Die Tumorwerte sind ei­gentlich gut, aber ich kann nicht mehr. Einvernehmlich wird die künstliche Ernährung beendet. Ein Großteil der Flüssigkeit ist in die Lunge gelaufen und hat zur Atemnot geführt. Ich gebe weiter Morphium, bis sich Schmerz und Atemnot lösen. Gleich darauf folgt eine Infusion mit hochwirksamen Medikamenten gegen Übelkeit und Angst.
Der Leidenszustand bessert sich rasch. Mit dem Ehemann rede ich Klartext: Seine Frau liege im Sterben.« Warum jetzt noch die so genannte PEG-Sonde – die in vielen Fällen das Leben rettet – einsetzen! »Menschen sterben nicht«, lautet ein palliativer Leitsatz, »weil sie nicht essen, sondern sie essen nicht, weil sie sterben.« Thöns resümiert: »Unter guter Symptomkontrolle konn­­te Beate am nächsten Morgen im Beisein ihres Mannes sterben. Die beiden Jungs waren in der Schule. Bei einem späteren Telefonat mit dem Witwer wird er zu mir sagen: Annette hat Chemotherapie bis ans offene Grab
bekommen.« Ist das nicht schrecklich?

Nicht-sterben-lassen

Auch der Einsatz von Notärzten – hochprofitabel, wenn sie den Wiederbelebten in die Klinik bringen – ist bei Todkranken oft fragwürdig. Meine eigene Mutter, praktische Ärztin, pflegte den Angehörigen eines nicht mehr zu rettenden Todkranken zu sagen: »Verzichten Sie auf Notmaßnahmen und Klinikeinweisung. Lassen wir der Natur ihren Gang.« Der pflegebedürftige 94-jährige Rentner Heiner wehrte sich in der Klinik gegen die Empfehlung des Sta­tionsarztes, gegen seinen tödlichen Bauchspeicheldrüsenkrebs noch eine Chemotherapie zu beginnen. Daraufhin entließ ihn die Klinik bösgelaunt ohne Arztbrief, ohne Medikamentenplan und ohne die notwendige Medikation gegen seine Schmerzen. Dr. Thöns gab ihm die nötigen Schmerzmittel. Die Heimleitung mahnte er an: »Kein Notarztruf, Palliativnetz informieren. Keine Gewichtskontrolle, kein Essen- oder Tabletteneinnahmezwang, Wunschkost, keine Infusion, keine Trinkmengenprotokolle, keine Blutzucker- und Blutdruckkontrolle, Lagerung nach Wunsch, sorgfältige Mundpflege und Symptomkontrolle nach Plan.«

Was passierte? Kurz nach Mitternacht fand die Nachtschwester des Pflegeheims Heiner ohne Atem vor. Er war friedlich eingeschlafen. Trotz der klaren Absprache rief die Schwester den Notdienst an: »Als die vier Sanitäter und der Notarzt wenige Minuten später eintreffen, ist Schwester Viktoria gerade dabei, Blütenblätter auf dem Bettlaken des Verstorbenen zu verteilen, eine Kerze, die Bibel und ein Kreuz
auf den Nachttisch zu stellen. Sie wird zur Seite gedrängt, handtellergroße EKG-Aufkleber werden Heiner angelegt, ein Sanitäter beginnt mit einer Herzdruckmassage. Es folgt ein lautes Knacken. Dem ausgemergelten Greis brechen Rippen und Brustbein. Der Notarzt führt einen Beatmungsschlauch in die Luftröhre ein, dabei flucht er über die Zahnprothese, die sich gelöst hat. Der Beatmungsautomat wird angeschlossen, der die Lunge des Toten zwölf Mal in der Minute aufbläst und den Körper mit Sauerstoff versorgt.« Dazu zwölf Ampullen Adrenalin und zehn Elektroschocks. Dann endlich sagt der Notarzt: »Wir geben auf, Polizei rufen.« Wie heißt es im Grundgesetz: »Die Würde des Menschen ist unantastbar«. Armer Heiner.

Organentnahme

Wir wissen inzwischen durch die Transplantationsskandale, wie Angehörigen von Sterbenden zugesetzt wird, der »Resteverwertung« des Körpers zuzustimmen. Tatsächlich wird der Sterbende als noch Lebender in den OP ­geschoben und narkotisiert, weil die Organe eines Toten funktionsunfähig sind. Wie steht es hier mit der Würde des Sterbenden (wenn er nicht ausdrücklich vorher zugestimmt hat) und der der Angehörigen?

Auch hier ist Ökonomie im Spiel, denn menschliche Organe haben einen hohen Geldwert. Aber auch der explantierende Chirurg verdient eine Stange Geld. Das kam bei dem Göttinger Organskandal ­ 2012 ans Licht. Thöns: »Der beschuldigte Arzt hatte, neben ­seinem monatlichen Grundgehalt von immerhin 14 000 Euro, zusätzlich für jede transplantierte Leber einen Bonus von 1500 Euro erhalten. Diesen Bonus gab es bis zur sechzigsten Leber. Ob es da purer Zufall war, dass er 2009 neunundfünfzig und 2010 achtundfünfzig Lebertransplantationen durchgeführt hat? Als die Vereinbarung auslief, fielen die Transplantationszahlen in der Uni­klinik Göttingen signifikant. Und das Ende vom Lied? Der Chirurg kam in Untersuchungshaft, wurde angeklagt und 2015 freigesprochen. Die Begründung war eher abenteuerlich. Die Manipu­lationen seien dem Arzt zwar nachg­ewiesen worden und würden vom Ge­richt auch »missbilligt«. Da aber die Transplanta­tionsrichtlinien der Bundesärztekammer ohnehin verfassungswid­rig seien, kämen die Verstöße der Chi­rurgen keinen Straftaten gleich.

Was tun?

Mit umfassender Fachkenntnis informiert der Autor über die enormen Möglichkeiten der Palliativmedizin. In der Mehrheit der Sterbeprozesse ist eine weitgehende Schmerzfreiheit des Patienten und damit ein guter Abschied vom Leben und von den Angehörigen zu erreichen. Thöns Bericht ist hier besonders eindrucksvoll und evident. Wir sollten die Dienste von ambulanten ­Palliativteams, klinischen Palliativsta­tionen und Hospizen nutzen. Sie sind ein großartiger Fortschritt. Weiter gilt es, eine umfassende Patientenverfügung zu erstellen und zu hinterlegen, wie sie der im Anhang abgedruckten »wasserdichten« Verfügung des Autors zu entnehmen ist. Unerlässlich ist es, gleichzeitig eine Generalvollmacht für einen Angehörigen oder Freund zu erteilen. Das kann kein selbstherrlicher »Halbgott in Weiß« ignorieren. Es ist der erfolgreiche Widerstand gegen das medizinische »Sterbeverlängerungskartell«, wie es Matthias Thöns nennt. Auch und gerade die Pharmaindustrie ist hierbei, unter anderem mit den horrenden Preisen der Krebsmedikamente, aktiv beteiligt.

Leider ist der seit der Kaiserzeit straffrei assistierte medizinische Suizid mittlerweile strafrechtlich sanktioniert – »gegen den Rat der überwältigenden Mehrheit der Strafrechtslehrer, die Mehrheit der Ethiker, die Mehrheit der Ärzte, die Mehrheit des Pflegepersonals – und vor allem: der Mehrheit der Betroffenen und der Bevölkerung«. Das war die verhängnisvolle Bundestagsentscheidung vom 6. November 2015. Ich selbst habe mir für den möglichen (nicht unausweichlichen) Ernstfall bei einem befreundeten Arzt die Medikamente für den Lethe-Trunk, den Schlaf des Vergessens, besorgt und
mich von ihm über das notwendige Prozedere informieren lassen. Das kann man ablehnen oder annehmen. Es ist eine individuelle Entscheidung. Was nicht mehr passieren darf unter dem  Sterbeverlängerungskartell« hat der heute 86-jährige Heiner Geißler, früher Bundesgesundheitsminister, mit deutlichen Worten gesagt: »So stirbt der Patient ganz im Stil unserer Zeit inmitten der hektischen Geschäftigkeit einer supertechnisierten und übermedikamentösen Medizin, in sterilen Räumen, abgeschirmt von der nicht keimfreien Außenwelt nach tagelangem Kampf der Ärzte mit dem Tod. Von jeder Kommunikation mit seinen An­gehörigen, Freunden, Bekannten und dem Geistlichen etc. abgeschnitten, wird nun erst das Sterben zur seelischen Qual. Die Intensivmedizin wird hier zur Hölle der Einsamkeit, zum Absturz der Seele ins Nichts, zur wissenschaftlichen Versuchsstation und Folterkammer, die verhindert, dass der Patient den Sinn seines Sterbens, Vollendung bzw. den Abschluss seines Lebens erkennen und vielleicht bewältigen kann.«

Quelle: DER GESUNDHEITSBERATER 11-2016