Blutwerte (Normalbefund, Referenzwerte)

Frage:
Kürzlich wurden bei einer Routineuntersuchung meine Blutwerte bestimmt. Mein Hausarzt teilte mir mit, dass alle Werte normal seien. Dennoch fühle ich mich nicht so richtig wohl. Wie finde ich raus, was mir fehlt?

Antwort:
Text
Wenn uns etwas fehlt, können wir uns fragen, ob es uns abhandenkam oder ob wir es jemals besessen haben? Wenn der Doktor fragt: »Was fehlt Ihnen?«, könnte der Patient allgemein antworten: »Gesundheit!«.
Patienten gehen gewöhnlich nicht mit einer Diagnose zum Arzt, sondern mit subjektiven Befindensstörungen, die man auch als Symptome bezeichnet. Der Patient erwartet vom Arzt nicht nur Fachkompetenz, sondern auch Empathie und echtes Interesse.
Bei Labordaten (Blutwerten) handelt es sich um kleinste Messgrößen. Es sind reproduzierbare, mit gewissen Streuwerten und Störgrößen versehen Zahlenwerte. Wir könnten uns demnach fragen: »Was ist der Mensch?« Diese Frage bezieht sich auf die Quantität. Der Mensch wird in Zahlen verschlüsselt. Man kann sich jedoch auch nach dem »Wie« erkundigen. So lautet die Frage: »Wie ist der Mensch?«. Hierbei wird der Mensch personifiziert; er bekommt ein Wesen. Die Antwort hieße: Der Mensch ist eine Person, eine Persönlichkeit – ja, er ist ein Individuum, nämlich unteilbar.
Das Spektrum der Analysewerte aus dem Labor ist nahezu unerschöpflich. Laborwerte sind immer nur Momentaufnahmen. Dr. M. O. Bruker veranschaulichte in Seminaren und Vorträgen diesen Sachverhalt an einem Beispiel: Stellen Sie sich einmal vor, Sie stehen zur Hauptverkehrszeit tagsüber auf einer Autobahnbrücke und zählen die unter Ihnen vorbeifahrenden Autos. Nun wiederholen Sie diese Zählung zur Nachtzeit, etwa um 2:00 Uhr. Erwartungsgemäß erhalten Sie zwei sehr unterschiedliche Ergebnisse. Ähnlich wie die Verkehrszählungen an der Autobahn ist zum Beispiel auch die Anzahl der roten Blutkörperchen abhängig von äußeren Faktoren wie Tageszeit, Körperlage (liegend, sitzend), Gewicht, Größe, Geschlecht, Alter, körperlicher Aktivität etc. Labordaten sind nur ein Puzzlestein auf dem Weg zur Diagnose. Routinemäßig ein großes Blutbild anfertigen zu lassen, ist weder notwendig noch zweckmäßig.
Trotz Qualitätsstandards und Qualitätskontrollen sind Normwerte (Referenzbereiche mit Unter­ und Obergrenze) abhängig vom Gesundheitszustand (Lebensweise und Ernährungsweise) der Probanden, das heißt von dem Kollektiv, an dem die Laborparameter erhoben werden.
Als normal werden Ergebnisse bezeichnet, die bei rund 95 % aller »gesunden« Untersuchten gefunden werden. Die Blutabnahme sollte morgens, nüchtern im Liegen (bei Verlaufskontrolle möglichst zur gleichen Zeit) erfolgen. Verschiedene Einflussgrößen müssen bei der Interpretation der Blutwerte beachtet werden. Dazu gehören neben den schon erwähnten Einflussgrößen auch Einflüsse von Arzneimitteln, Stauungszeit (zu lange Stauung kann zu Abweichungen von Laborwerten führen), sowie zu schnelles Aspirieren durch eine zu dünne Nadel, Lagerung der Blutproben und Behandlung der Untersuchungsmaterialien. Das Laborresultat muss mit der Anamnese und der körperlichen Untersuchung in Beziehung gesetzt werden. Natürlich haben labormedizinische Untersuchungen ihre Berechtigung, der Arzt sollte sich allerdings davor hüten, unkritisch eine Vielzahl von Laboruntersuchungen anzuordnen.

Literatur
Labor und Diagnose, TH-Books, 7. Auflage