Buchvorstellung: „Der Froschkönig“ von Mathias Jung

Wie wir die Liebe lernen

Die Prinzessin und der Froschkönig

Es ist ein bizarres Liebesdrama zwischen der Schönen und dem »Biest«. Ein wahres Kunterbunt von Slapstick, Komödie, Tragödie, Missverständnissen, kindlichen Traumatisierungen, Illusionen und Desillusionen, Stillstand, Bewegung, Turbulenzen und haarsträubenden Lernerlebnissen. Diese Liebe ist, wie so viele, im Alltag kein Zuckerschlecken. Die ungelösten Probleme der Vergangenheit blockieren wie Felssteine die Fließgeschwindigkeiten des Beziehungsstroms. Die beiden machen Fehler vom holprigen Anfang bis zur Reife ihrer Liebesarbeit: wie wir alle auch. Ihr aufmerksamen Leserinnen und Leser habt mir dazu aus eurem Erleben ebenso freimütig wie spannend berichtet. Tausend Dank!

Aus dem soeben erschienenen Buch Glück und Zähneklappern der Liebe. Der Froschkönig. Wie wir Beziehung lernen veröffentlichen wir im Folgenden einen Auszug aus dem Kapitel »Das reine Bettlein«. Ach, selbst der Sex, dieses Paradies unserer Lüste, hat seine Tücken!

Die Aufdringlichkeit des kriecherischen Frosch-Mannes verschlägt der Prinzessin-Frau den Appetit. Sie mag aber auch nicht mit ihm schlafen. Hören wir das Märchen:

Endlich sprach er: »Ich habe mich satt gegessen und bin müde. Nun trag mich in dein Kämmerlein und mach` dein seiden Bettlein zurecht, da wollen wir uns schlafen legen

Die Königstochter fing an zu weinen und fürchtete sich vor dem kalten Frosch, den sie nicht anzurühren getraute und der nun in ihrem schönen reinen Bettlein schlafen sollte. Der König aber war zornig und sprach: »Wer dir geholfen hat, als du in der Not warst, den sollst du hernach nicht verachten.« Da packte sie ihn mit zwei Fingern, trug ihn hinauf und setzte ihn in eine Ecke. Als sie aber im Bett lag, kam er gekrochen und sprach: »Ich bin müde. Ich will schlafen so gut wie du; heb mich herauf, oder ich sag`s deinem Vater.«

Sexuelle Störungen

Natürlich ist das Symbol des Frosches ein Bild für den Penis, »den sie nicht anzurühren getraute und der nun in ihrem schönen reinen Bettlein schlafen sollte«. Ein Frosch ist schleimig, sozusagen sekretorisch. Die Sexualität ist alles andere als steril und säuberlich. Da werden die Bettlaken befleckt. Nichts da von einem reinen Bettlein. Unsere blutjunge Frau hat eine Riesenangst vor der Sexualität, vor Ekstase, Kontrollverlust und Verschmelzung mit dem Mann.

Bei sexuellen Störungen müssen wir immer die Frage klären: Welche Rolle nimmt das Symptom in unserer Partnerbeziehung ein? Sofern sexuelle Symptome nicht simple körperliche Gründe haben – die toten Hosen eines Alkoholkranken zum Beispiel –, drücken sie immer eine verborgene Wahrheit aus. Der spätmittelalterliche Philosoph Montaigne rückt in seinen Essays die Scham-Losigkeit Lust so ins Bild: »In ihrer mütterlichen Fürsorge hat die Natur die weise Regel beobachtet: Was sie zur Erhaltung unserer Existenz von uns verlangt, das bereitet uns auch Lust, sie leitet uns dazu eben nicht nur durch die Vernunft, sondern auch durch den Körper – es ist Unrecht, ihr Gesetzt zu verfälschen.« Lust ist Leben.

Sexuelle Störungen zu beseitigen bedeutet oft die Herausforderung, die zum Kerker gewordene Beziehung zu lüften – die Fenster aufzureißen, das polymorphe Draußen hereinzulassen. Warum werden Beziehungen oft wieder vital, wenn einer der beiden eine Außenbeziehung aufnimmt, neue Forderungen aufstellt und den alten Mief zur Haustüre heraustreibt?! Nicht das Auftreten von Beziehungskrisen ist das Anormale. Anormal ist allein das Verdrängen und Verleugnen der Konflikte, das Reißausnehmen vor der Auseinandersetzung. Unsere Sexualität fungiert gleichsam als die Warnanlage der Beziehungsstörung. Wer aber käme auf die Idee, wenn die Warnanlage anschlägt, diese zum Störfaktor zu erklären, anstatt nach der Ursache zu fahnden. Wo die Sexualität Angst macht oder die Sahelzone erotischer Langeweile steppenartig sich ausbreitet, da ist nicht die Sexualität, sondern die Beziehung zwischen Mann und Frau oder Mann und Mann oder Frau und Frau kritisch zu hinterfragen.

Sexuelle Störung eines Partners kann verdeckte Feindseligkeit ausdrücken: »Wir streiten uns ja nie, aber eigentlich grolle ich dir.« Sie kann verstohlene Machtausübung markieren: »Du bist ja sonst so haushoch überlegen, aber hier zeige ich es dir.« Sie kann tiefe Selbstabwertung beinhalten: »Ich glaube dir nicht, dass du mich wirklich begehrenswert findest, ich finde mich ja selbst unattraktiv.« Kurz, sexuelle Störungen signalisieren von Abwehr bis Überforderung so ziemlich alles. Das tun sie durchwegs unbewusst. Wir begreifen nicht, warum wir so agieren.

Die Psychologie der Leidenschaft

Die »animalische« Sexualität des Stammhirns sichert instinkthaft das Überleben der Gattung. Die neokortikale Erotik inszeniert das Drama der Attraktion, des Begehrens, der Eroberung, der Hingabe, des Zaubers der Sinne und des Geistes. Sexualität ist Himmel und Hölle auf der Erde. Sie bedeutet Verschmelzung und die Wonnen und Schrecken des Kontrollverlustes. Wonnen, weil im orgasmischen Höhepunkt der Sexualität die Individuation und Isolation des Menschen gleichsam wie in einem Zustand der Schwerelosigkeit sekundenlang aufgehoben werden. Schrecken, weil die sexuelle Faszination und symbiotische Verschmelzung auch Autonomieverlust und Abhängigkeit, ja Hörigkeit bedeuten können. Der Liebende ist seiner Sinne nicht mehr mächtig. Die Liebende ist nicht mehr Herrin im Hause ihres Bewusstseins.

Die Psychologie der Leidenschaft entsteht aus der Einzigartigkeit eines Menschen. Sein Begehren steht in einem biografischen Zusammenhang. Das Sexuelle ist eine abgründige, farbige und zerklüftete Landschaft mit immer neuen Perspektiven. Mit anderen Worten: Sex ist alles andere als spontan. Er unterliegt einer Dramaturgie der Vergangenheit, der Ängste, der Bedürfnisse und Erwartungen, der gemachten Beziehungserfahrung und besonderen Spezifik der eigenen Geschlechtsidentität. In meiner Praxis hängt ein Cartoon mit der Überschrift: »Wie der 3. Weltkrieg begann«. Frau und Mann liegen frustriert im Bett. Frau sagt: »Nicht heute, ich habe Kopfweh.« Der Mann denkt: »Morgen werde ich Diktator.«

Störungen stellen oft einen Schutzwall gegen verborgene Ängste dar, die mit dem Sex in Zusammenhang stehen. So können chronische Unterleibsbeschwerden bei der Frau (zum Beispiel Scheidenausfluss, Jucken, Pilze) auf einer tieferen seelischen Ebene den Widerstand gegen die Sexualität mit dem Ehemann bedeuten und garantieren. In der Psychologie bezeichnen wir dieses Phänomen als primären Krankheitsgewinn. Der lebensbedinge Konflikt wird durch eine Krankheit gelöst. Ein sekundärer Krankheitsgewinn ergibt sich daraus, dass der leidige Sex sich durch die körperlichen Symptome erübrigt. Möglich wäre schließlich auch noch ein tertiärer Krankheitsgewinn, wenn die Frau ihr Eheunglück erkennen und Konsequenzen daraus ziehen würde.

Sexappeal und Selbstkonzept

Um sexuell selbstbewusst zu sein und Sexappeal auszustrahlen, brauche ich zunächst einmal ein positives Selbstkonzept, also ein nicht übertriebenes aber vitales Selbstwertgefühl. Mit einem negativen Selbstkonzept mache ich mich zum erotischen Subventionsfall. All das stimmt zwischen der weinerlichen Prinzessin-Frau und dem schlappen Frosch-Mann nicht. Sie fühlt sich nicht begehrenswert, sondern bedrängt und gehemmt. Sie ist, wie ein Reh, ein Fluchtgeschöpf. Durch ihre neurotische Vaterbindung sitzt sie unbewusst in einem inzestuösen Gefängnis, ohne dass es direkt zu sexuellen Übergriffen gekommen wäre. Hinter ihrer hübschen Fassade kocht die blanke Wut gegen den gleichermaßen kriecherischen wie erpresserischen Ehemann.

Er lässt ihr keine Eigenständigkeit. Er selbst lebt keine Selbstständigkeit. Er hat keinen Freund. Er hat keine sichtbaren Interessen. Seine Depressivität und Unterwürfigkeit macht den Frosch-Mann langweilig, lästig, unerotisch. Missbraucht er nicht die Sexualität, um die Prinzessin wie eine Immobilie zu besitzen und ihr seine infantile Unerlöstheit aufzubürden?

Die Sexualität hat tausend Gesichter. Man kann sie benützen und missbrauchen. Sie kann eine Bindung vortäuschen, die in Wirklichkeit gar nicht existiert. Sie kann schieren Egoismus und Gewalttätigkeit darstellen. Sie kann den – untauglichen – Versuch bedeuten, der eigenen Einsamkeit und Selbstabwertung zu entkommen, sich in der Sexsucht wie über einen Abgrund zu hangeln.

Realität und Erwartung

Will der unerfahrene Frosch-Mann seiner unerfahrenen Ehefrau Handschellen verpassen, weil er potentielle Rivalen fürchtet? Die Schriftstellerin Kaja Lewina stellt in ihrem abgründigen Roman Ex über die hohen Amplitudenausschläge der sexuellen Leidenschaft nüchtern fest: »Angesichts der großen Verfügbarkeit sexueller Körper und / oder aufregenden Sexualitäten und angesichts der Norm der Monogamie ist die außerhalb der häuslichen Einheit wabernde sexuelle Energie eine dauerhaft drohende Gefahr für eine Ehe«. Sie zieht das Fazit: »Tja, es wird immer kompliziert, wenn Realität auf Erwartungen trifft.

Prinzessin-Frau und Frosch-Mann können sich nicht gegenseitig nähren, weil sie sich selbst noch nicht nähren können. Auch besonders nicht in der Sexualität. Sie werden die größte Liebesgeschichte ihres Lebens wagen müssen: die Liebesgeschichte mit sich selbst. Noch agieren sie aus den Niederungen des Schattenkindes, um die Psychologin Stefanie Stahl zu zitieren („Das Kind in dir muss Heimat finden“). Das Sonnenkind muss erst an das Tageslicht kommen dürfen. Die Landschaft der Liebe will entdeckt werden.

Mathias Jung

Glück und Zähneklappern der Liebe
Der Froschkönig.
Wie wir Beziehung lernen.