Das Drama der Sucht

Sucht als Thema ist spannend und komplex zugleich. Als Krankheit ist sie aber voller Tragik. Denn von der Sucht und seinen Folgen sind nicht nur die Süchtigen selbst betroffen, sondern ihre Kinder, der Partner, die Freunde, die Arbeitskollegen, der Arbeitgeber und letztendlich die Gesellschaft. Das Thema ist aber kein Produkt der heutigen Zeit. Es begleitet uns seit langer Zeit, nur die Risiken für eine Suchterkrankung sind größer und zahlreicher geworden. Schon die Griechen und insbesondere Platon haben sich mit dem Alkohol und dem Rausch beschäftigt. Auch der Prophet Mohammed hat das Trinken von Alkohol verboten, weil er beobachten konnte, welche Folgen es auf das Verhalten der Trinkenden hat. Martin Luther sagte: »Es ist ganz Deutschland mit dem Saufen geplagt. Wir predigen . . . und schreiben darüber, es hilft aber leider nicht viel.« Er hat aber nicht das Oktoberfest erlebt. Was würde er wohl sagen, wenn er die heutige Zeit erlebte, in der Alkohol überall zu bekommen ist, in der unsere Medien ja sogar Werbung für diese Droge machen. Der Begriff Sucht kommt aus dem Mittelhochdeutschen »Siechen« oder Althochdeutschen »Siuchan« und bedeutet so etwas, wie an einer schweren Erkrankung zu leiden, ohne Hoffnung auf Heilung. Zu einer Sucht kann sich jedes menschliche Verhalten und jede menschliche Aktivität entwickeln. Man kann es mit allem übertreiben, wie es der Volksmund zu sagen pflegt. Man spricht von Esssucht, Fettsucht, Besserwissersucht, Arbeitssucht, Sexsucht, Herrschsucht, Eifersucht und so weiter. Vielleicht werden wir auch bald von Smartphone- und Facebooksucht sprechen müssen. In der Literatur wird manchmal von Sucht, manchmal von Abhängigkeit gesprochen. Auch wenn der Begriff Sucht vielseitig angewendet wird, können beide Begriffe als Synonyme benutzt werden. Dass sich jedes menschliche Verhalten zu einer Sucht entwickeln kann, sieht man auch heute daran, dass man mittlerweile zwischen stoffgebundenen Süchten, wo eine Substanz im Spiel ist, wie Alkohol- oder Kokain-Abhängigkeit, und Verhaltenssüchten, wo keine Substanz im Spiel ist, wie Glückspielsucht, Internet- und Kaufsucht unterscheidet. Beide wirken nach ähnlichen Prinzipien auf die Psyche und haben fatale Folgen für den Süchtigen und seine Umgebung.

Wann ist ein Mensch süchtig?

Die WHO (Weltgesundheitsorganisation) hat bestimmte Kriterien festgelegt, woran sich Psychotherapeuten und Ärzte orientieren können, um eine Suchterkrankung zu diagnostizieren und genau zu sagen, ob ein Mensch süchtig ist oder nicht:

  • Wenn der Betroffene ein starkes Verlangen oder einen starken Wunsch verspürt, Alkohol zu konsumieren oder Computerspiele zu spielen, Zigaretten zu rauchen oder Kaffee zu trinken. Der Wunsch ist so stark, dass der Betroffene, zum Beispiel der Alkoholiker, seinen Arbeitstag frühzeitig beendet, um Alkohol trinken gehen zu können, und der Computerspielsüchtige seinen Schultag, um Computer zu spielen. Auch während der Arbeit oder des Unterrichts denken die Betroffenen an das Suchtmittel. Bestimmte Alkoholiker haben immer etwas zum Feiern, bei jeder Gelegenheit wird darauf angestoßen: Keine Feier ohne Meyer.
  • Wenn die Betroffenen im Umgang mit der Droge die Kontrolle verlieren. Die Betroffenen können nicht mehr bestimmen, wann sie beginnen, wie lange und wie viel sie spielen oder trinken und wann sie damit aufhören. Hier übernimmt die Droge die Kontrolle über das Verhalten und nicht umgekehrt. Sobald der Süchtige versucht, sein Verhalten zu kontrollieren, indem er den Alkoholkonsum oder das Computerspiel reduziert oder absetzt, treten verschiedene Entzugssymptome auf wie Nervosität, Schlafstörungen, innere Unruhe, depressive Verstimmungen. Bei Alkoholikern kann es im Rahmen eines Entzugs zu einem Alkohol-Delir kommen, das auch tödlich enden kann. Bei Jugendlichen, die computerspielsüchtig sind, kann es zu aggressiven Ausbrüchen kommen. Deshalb sind die Eltern computerspielsüchtiger Jugendlicher gut beraten, davon abzusehen, das
    Computerspielen ihrer Kinder mit Gewalt zu beenden. Viele computerspielsüchtige Jugendliche kommen erst wegen Gewalt und Wutausbrüchen gegenüber den Eltern in die Behandlung.
  • Wenn durch den anhaltenden Konsum von Alkohol oder anderen Drogen oder Computerspielen der Körper und die Psyche eine Art Toleranz entwickeln: Das heißt, das Gehirn adaptiert sich immer aufs Neue an das Trinkverhalten und verlangt immer mehr von dem Suchtstoff, um den gleichen Effekt zu erzielen wie beim ersten Mal. Zum Beispiel kann es beim Computerspielabhängigen dazu kommen, dass er statt einer Stunde zehn Stunden am Stück spielen muss; wenn früher angenehm empfundene Aktivitäten oder Aktivitäten mit der Familie zu Gunsten des Alkoholkonsums oder Onlinespielens vernachlässigt werden.
  • Wenn die Betroffenen die Droge immer weiter konsumieren, auch wenn sie um die negativen Konsequenzen ihres Verhaltens wissen. Ja sogar auch, wenn die negativen Folgen im Alltag spürbar sind, in Form von Konflikten in der Familie oder am Arbeitsplatz, im Schulversagen oder in Form von körperlichen Beeinträchtigungen. Deshalb ist Sucht nicht nur durch Einsicht und Willen allein behandelbar, sondern eine Lebensumstellung ist immer erforderlich.

Zahlen und Fakten

Seele – Sucht – Sehnsucht von Mathias Jung

Seele – Sucht – Sehnsucht von Mathias Jung

Damit wir uns das Suchtproblem in Deutschland bewusst machen, müssen wir folgende Statistiken am Beispiel der Droge Alkohol und Computerspielsucht genau betrachten. Circa 74 000 Todesfälle pro Jahr sind auf die Folgen von ­Alkohol zurückzuführen. Circa 25 995 Menschen im Alter zwischen 10 – 20 Jahren wurden 2010 stationär behandelt. Circa 9,5 Millionen Menschen in Deutschland haben Alkoholprobleme und ca. 1,3 Millionen sind alkoholabhängig. Unsere Gesellschaft hat auch viele lustige Sprüche entwickelt, die das Problem verharmlosen und zeigen, wie wir die Droge Alkohol in unser Leben und Wertesystem integriert haben. »Alkoholiker = Mitmensch, der so viel trinkt wie Sie und ich, den wir aber nicht leiden können«, »Alkoholiker werden zwar nur halb so alt, aber dafür sehen sie alles doppelt«, »Das Wasser ist des Ochsen Kraft, der Mensch trinkt Wein und Gerstensaft. Drum stoß ich an mit Bier und Wein, wer möchte schon ein Ochse sein«.
Koma-Saufen ist ein Hit und Zeichen des Cool-Seins unter Jugendlichen, Tendenz rückläufig – Gott sei Dank. Dafür aber steigt die Anzahl der Computerspielsüchtigen rapide an. Circa 560 000 Süchtige zwischen 14 – 64 Jahren, und ca. 2,5 Millionen Menschen dieses Alters sind problematische Internetnutzer. Ungefähr 250 000 Menschen im Alter zwischen 14 – 24 Jahren sind internetabhängig. 1,5 Millionen im gleichen Alter sind aber problematische Internetnutzer. Laut Studie »Kinder in der digitalen Welt« (2015), durchgeführt vom Familienbundesministerium in Kooperation mit dem deutschen Institut für Vertrauen und
Sicherheit im Internet und dem Heidelberger Sinus-Institut, sind etwa 1,2 Millionen Kinder zwischen 3 und 8 Jahren regelmäßig im Internet unterwegs. Es handelt sich um Kinder, die zum großen Teil noch nicht lesen und schreiben können. Sie erkennen aber Internetsymbole, die ihnen den Zugang zu verschiedenen Webangeboten ermöglichen. Das ist alarmierend und kann die Persönlichkeits- und Gehirnentwicklung des Kindes nur negativ beeinflussen. Umso erstaunlicher war die Reaktion unserer Familienministerin Manuela Schwesig: »Eltern möchten ihren Kindern einen guten Start in eine Gesellschaft ermöglichen, die sich zunehmend digital organisiert. Deshalb müssen Kinder von Anfang an die Chance haben, zu lernen, wie sie gut und souverän mit Medien umgehen.« Solche Aussagen sind unverantwortlich und zeugen von Unwissen und Ignoranz. Man kann nicht sagen, dass unsere Kinder schon im Alter von 3 Jahren damit anfangen sollen, Alkohol zu probieren, damit sie lernen, souverän mit der Droge umzugehen. Die Äußerungen der Ministerin sprechen für einen allgemeinen Trend in der Welt, sich passiv und widerstandlos
den digitalen Entwicklungen unterzuordnen. In Deutschland werden Computerspiele als Kulturgut betrachtet. Sie können auch Kulturpreise gewinnen. Unsere Ministerin sollte vielleicht Kliniken, wo Kinder und Jugendliche mit Computerspiel- oder Internetproblemen behandelt werden, besuchen.

Der Vergleich zwischen Computerspielen und Alkohol ist überhaupt nicht abwegig. Alle Suchtstoffe, einschließlich Internet- und Computerspielen, aktivieren das Belohnungssystem im Gehirn, das für Spaß und Freude zuständig ist. Wenn wir etwas tun, was uns Spaß macht, wird dieses System aktiviert. Wir spüren oder haben Spaß, weil die Aktivierung des Systems zur Freisetzung von Glückshormonen im Gehirn führt. Dies bedeutet, dass die Suchtmittel zu
starken Veränderungen der Aktivitäten unseres Gehirns führen und mit der Zeit auch zur Degeneration der Strukturen des Gehirns führen können.

Warum werden Menschen überhaupt süchtig?

»Angesichts der scheinbaren Sinnlosigkeit, angesichts eines abgründigen Sinnlosigkeitsgefühls, wie es heute so sehr um sich greift, bleibt scheinbar nur der Rückzug in die pure Subjektivität bloßer Glücksgefühle, wie die Suchtgifte sie vermitteln.« Viktor Frankl

Die Menschen werden süchtig, weil sie ihrer Realität entfliehen möchten. Die Suchtstoffe und -mittel bieten dem Süchtigen dazu eine Alternative an. Der Süchtige kann in einer kurzen Zeit der Mensch sein, der er tatsächlich ist, aber in der realen Welt nicht sein darf. Die Tatsache, dass Menschen Suchtmittel brauchen, um zu sich zu finden, ist an der ersten Stelle ein Armutszeugnis für unsere Gesellschaft und deren Erziehungsmethoden und nicht nur ein grandioses Scheitern der einzelnen Betroffenen, wie es uns die Schulpsychologie zu vermitteln versucht. Dies bedeutet nicht, dass das Individuum von jeglicher Verantwortung für sein Verhalten und seine Gefühle freigesprochen ist. Jeder Mensch ist selbst für sein Glück verantwortlich und dazu verpflichtet, dem eigenen Leben einen Sinn zu geben, um
sich selbst vor der um sich greifenden Sinnlosigkeit zu schützen. Diese Entwicklungsaufgabe gestaltet sich mehr oder minder schwer, je nachdem, welche gesellschaftlichen Bedingungen herrschen. Die unter dem Einfluss von Suchtstoffen und -mitteln erlebten Erlebnisse dienen meistens dem Ausgleich negativer Erlebnisse der realen Welt und des tagtäglich erlebten Scheiterns in Bezug auf die eigene Selbstentwicklung. Für dieses Scheitern kann nicht nur das Individuum alleine verantwortlich gemacht werden. Unsere Cool-Sein-Gesellschaft tabuisiert das Erleben und Mitteilen der eignen negativen Gefühle, verherrlicht die Inszenierung, toleriert keine Schwäche und gibt dem Schein mehr Gewicht als dem Sein. Freie Räume zur Auseinandersetzung mit den negativen Gefühlen auf gesellschaftlicher Ebene werden immer enger. Alles, was nicht in das Bild einer coolen, leichten und harmonischen Gesellschaft passt, wird durch unsere Unterhaltungsmedien glattgebügelt, obwohl die Realität gar nicht so heil aussieht. Konkurrenzkampf, Feindseligkeit, Angst und die große Schere zwischen Arm und Reich beherrschen das gesellschaftliche Bild. Unter diesen Bedingungen muss der Einzelne funktionieren. Er darf nicht das sein, was er ist, sonst wird er als nicht mehr belastbar, schwach und krank stigmatisiert und zur Behandlung geschickt. Um funktionieren zu können bleibt vielen Menschen nichts anderes übrig, als »in die pure Subjektivität bloßer Glücksgefühle, wie die Suchtgifte sie vermitteln«, zu flüchten. Es muss sich nicht nur um Suchtgifte handeln, sondern auch die Unterhaltungsmedien und das Essen können in diesem Sinne umfunktioniert werden.

Weitere Ursachen

Es gibt für Sucht nicht die Erklärung. Das Phänomen ist so komplex und vielfältig wie die Menschen, die darunter leiden. Deshalb werde ich von bestimmten Risikofaktoren sprechen. Es gibt bestimmte genetische Prädispositionen, die die Anfälligkeit für Sucht erhöhen. Aber diese Gene zu haben bedeutet nicht, automatisch süchtig zu werden, und sie nicht zu haben bedeutet nicht automatisch, dass wir nicht süchtig werden können. Im Allgemeinen kommt es auf das Zusammenspiel von Genen und Umwelt an. Es steht aber fest, dass bestimmte Menschen Alkohol nicht vertragen, weil bei ihnen ein bestimmtes Enzym nicht ausreichend produziert wird. Diese wiederholen den Konsum von Alkohol nicht und sind damit lebenslänglich vor einer Alkoholabhängigkeit geschützt. Auch die Verfügbarkeit von Suchtmitteln spielt eine wichtige Rolle, ob sich viel oder weniger Süchtige in einer Gesellschaft befinden. Zum Beispiel finden wir mehr Alkoholiker in Deutschland als in Saudi Arabien, wo Alkohol verboten ist.

Alkohol

Paul ist 43 Jahrevon alt, verheiratet und hat drei Kinder. Er ist Angestellter von Beruf und kam in die Therapie we­gen Alkoholproblemen. Jeden Abend trinkt er 4 Biere – und
dies seit 10 Jahren. In den letzten Monaten hat er mit dem Trinken von Hochprozentigem angefangen. Er meldet sich häufig bei der Arbeit krank, weil er sich von den Folgen sei­ner Trinkerei kurieren muss. Als er anfing, schon morgens zu trinken, bekam er massive Konflikte mit seiner Frau. Au­ßerdem wurde er unter Alkohol seiner Frau und seinen Kin­dern gegenüber aggressiv. Die Frau hat ihm gedroht, sich von ihm zu trennen. Für sein Verhalten seiner Familie ge­genüber und für seine Alkoholabhängigkeit schämte er sich in Grund und Boden. Paul berichtet, dass er sich meistens vornimmt, nicht mehr als ein Bier zu trinken. Aber wenn er mit dem Trinken anfängt, kann er nicht mehr aufhören, bis er »stockbesof­fen« wird. Am Arbeitsplatz denkt er häufig an Alkohol und versucht, so früh, wie es geht, nach Hause zu kommen, um trinken zu können. Manchmal ist der Suchtdruck so stark, dass er in der Mittagspause ein Glas Wein in der Kneipe ne­benan trinkt. Er trinkt, wenn er sich freut, wenn er sich traurig fühlt, wenn er sich unter Stress fühlt, nach einem Streit mit seiner Frau oder seinen Arbeitskollegen. Alkohol hilft ihm, sich zu entspannen, runterzukommen und die
Welt mit anderen Augen zu sehen. Seine Versuche, ohne fremde Hilfe auf Alkohol zu verzichten, blieben ohne Er­folg. Aber er weiß, dass es so nicht weitergehen kann und dass er auf eine Katastrophe zusteuert, wenn er weiter trinkt.

Der Weg aus der Alkoholfalle

Das Ziel der Therapie von Alkoholkranken soll immer die Abstinenz sein. Beim gleichzeitigen Vorliegen anderer le­bensbedingter Krankheiten hat die Behandlung der Sucht immer Priorität. Während der Therapie ist es wichtig und notwendig für eine erfolgreiche Behandlung, dass der Be­troffene keinen Alkohol mehr trinkt, sonst hat die Behand­lung keine Aussicht auf Erfolg. Deshalb habe ich mit Paul vereinbart, dass er sich einer Entgiftung unterzieht, bevor wir mit der Therapie anfangen können. Dies muss unter ärztlicher Beobachtung stattfinden, weil die Entzugssymp­tome heftig auftreten können und es zu einem lebensge­fährlichen Alkoholdelir kommen kann. Nach der Entgif­tung haben wir mit der Therapie angefangen. Gemeinsam wurden folgende Therapieziele herausgearbeitet:

  1. Klärung problematischer Trinkmuster und deren mög­lichen Folgen
  2. Frühzeitiges Erkennen und konstruktiver Umgang mit dem Alkoholverlangen oder mit dem Suchtdruck
  3. Rückfallprophylaxe
  4. Aufbau eines eigenen selbstfürsorgenden, gesundheits­förderlichen Verhaltens

Die Therapieziele konzentrieren sich sowohl auf das Hier und Jetzt als auch auf die Zukunft, ohne die Vergangenheit außer Acht zu lassen. Sie müssen so praktisch wie es nur geht gestaltet werden und zielen auf Veränderungen im täglichen Leben. Über eigene Probleme und Schwierig­keiten in der Therapie zu sprechen, ist wichtig und gut, reicht aber nicht aus, um nachhaltige Erfolge zu erzielen. Dazu bedarf es Veränderungen auf Handlungsebene. Um die eigene Sucht unter Kontrolle zu bekommen, muss das eigene Leben umgestellt werden, sonst ist es nur eine Frage der Zeit, bis die Sucht wieder zurückschlägt.

Zu 1: Gemeinsam mit Paul wurde über die Folgen seines Verhaltens reflektiert. Nicht, um ihm ein schlechtes Gewis­sen zu machen, sondern um ihn zu informieren und für die
gesunde Alternativverhaltensweisen zu motivieren. Es ging um Sammeln und Recherchieren von Informationen zu dem Thema Alkoholabhängigkeit und deren kurz- und langfristigen psychischen, körperlichen, sozialen sowie fa­miliären Folgen. Paul konnte durch eigene Recherchen eine lange und breite Liste über diese Folgen erstellen. Folgende Folgen des Alkoholkonsums haben Paul er­schüttert und wurden in den Einzelsitzungen thematisiert: Suizidalität, Fettleber, Leberzirrhose, Erkrankungen der Bauchspeicheldrüse, Schädigung des Magens, Polyneuro­pathie, Wernicke-Enzephalopathie, was u. a. zu Bewusst­seinsstörungen, Desorientiertheit und Gangstörungen führt, Korsakow-Syndrom (Gedächtnisstörungen) und Schädigung des Sehnervs. Im nächsten Schritt habe ich Paul gebeten aufzuschreiben, wie sein Leben aussehen würde, falls diese Folgen bei ihm auftreten würden. Wie wird es seinen Kindern und der Ehefrau dabei ergehen? Da­durch wurde sein Bewusstsein für die Folgen seines Verhal­tens für sich und seine Umgebung sowie sein Bewusstsein für die Notwendigkeit eines abstinenten Lebens geschärft. Paul wurde ermutigt, jedes Mal, wenn er Alkoholverlangen verspürte, die Liste durchzulesen. Warum? Die Alkoholab­hängigkeit entsteht u. a. auch aufgrund des angenehmen unmittelbaren kurzfristigen Einflusses des Alkohols auf die Psyche in Form von Heiterkeit, Gelassenheit, Freudeemp­finden und Reduktion von seelischem Schmerz. Paul musste lernen, mehr an die langfristigen Folgen zu denken als an die kurzfristigen.

Im nächsten Schritt wurde Paul motiviert, eine Lebens­linie mit einer Verlaufskurve seines Trinkverhaltens über sein gesamtes Leben zu zeichnen. Dadurch konnten ver­schiedene Phasen des Trinkverhaltens differenziert wer­den. Durch die Analyse der einzelnen Phasen und deren Vergleich konnte Paul wichtige Faktoren in seinem Leben identifizieren, die eine abstinenzförderliche Wirkung ha­ben. Zu diesen zählten z. B. positive Freizeitgestaltung,  stabile Arbeitsverhältnisse, glückliche Partnerschaft, zu­ friedenstellende Sexualität. Weiterhin fielen ihm bei der Analyse der Verlaufskurve seines Trinkverhaltens viele Peinlichkeiten auf: Sexuale Kontakte mit anderen Frauen, bei denen er sich an die Details nicht erinnern kann, wovon seine Ehefrau nichts weiß, und die ihm höchst peinlich wa­ren. Konflikte mit den Kindern und der Ehefrau, wo er handgreiflich und verbal verletzend wurde. Er konnte ent­decken, dass das Risiko zu trinken für ihn in den folgenden Situationen hoch ist: Wenn er abends alleine im Haus ist; wenn er mit Freunden in der Kneipe gewesen war; nach einem Konflikt mit der Partnerin; wenn er sich durch die Arbeitsanforderungen überfordert fühlte, mit seiner Über­forderung besser umgehen zu können; wenn er sich über die Partnerin oder seine Arbeitskollegen ärgere, um seine Gefühle runterzuregulieren, und wenn er seine Freizeit nicht aktiv und positiv gestalte, um aus seiner Langeweile rauszukommen.

Zu 2: Paul hat, wie viele andere Alkoholabhängige, Schwie­rigkeiten, das Verlangen nach Alkohol rechtzeitig zu identi­fizieren. Dies zu lernen ist notwendig, um sich gezielt und frühzeitig vor dem Trinken zu schützen. In mehreren Ein­zelsitzungen habe ich Paul gebeten, sich die letzten Trink­situationen imaginativ vorzustellen und sie so genau und ausführlich wie möglich zu beschreiben. Durch die Imagi­nation und das Nacherleben der Trinksituationen konnte er feststellen, dass sein Verlangen nach Alkohol mit Durstge­fühl, Nervosität und Zittern einhergeht. Durch die Durch­führung eines Tagebuches über sein Alkoholverlangen, konnte er lernen, das Verlangen nach Alkohol im Alltag zu identifizieren.

Um diese Fähigkeit zu verbessern, ist die Konfrontations­therapie erfolgversprechend. Sie ist im Rahmen der Be­handlung von Alkoholabhängigkeit eine gut etablierte The­rapie. Sie läuft folgendermaßen ab: Der Betroffene bringt sein Lieblingsgetränk in die Sitzung mit. Eine Trinksitua­tion soll so realitätstreu wie möglich hergestellt werden. Bei Paul war es sein Wohlbefinden nach einer Streitsitua­tion mit seiner Frau. Der Streit mit seiner Partnerin wurde anhand von Rollenspielen simuliert. Der Betroffene wird dann aufgefordert, sich auf die Alkoholflasche zu konzen­trieren und zu beschreiben, was in ihm vorgeht. Danach soll er diese langsam öffnen, an Alkohol riechen, die Zunge mit Alkohol befeuchten, daran schmecken. Gleichzeitig fragt der Therapeut den Betroffenen nach dem Anstieg des Alkoholverlangens. Normalerweise steigt das Verlangen nach Alkohol am Anfang stetig an, ab einem bestimmten Niveau bleibt es stabil, um dann nach einer bestimmten Zeit zu sinken. Die Übung hat mehrere Ziele: Paul konnte lernen, auf die Signale des Verlangens zu achten und zu erkennen, dass das Verlangen nach einer bestimmten Zeit abebbt. Außer­
dem konnte er erleben, dass er wohl in der Lage ist, sein Ver­langen zu kontrollieren und knifflige Situationen gut zu überstehen. Die erste Übung erfolgt im Beisein des Thera­peuten, danach übt der Betroffene alleine ohne thera­peutische Begleitung. Anschließend habe ich Paul, als Teil der Konfrontationstherapie, motiviert, Restaurants und Kneipen aufzusuchen, in denen er gewöhnlich getrunken hatte. Die Erfahrungen wurden in den Einzelsitzungen aus­ gewertet. Dadurch gewann er mehr Selbstsicherheit und Selbstwirksamkeit im Umgang mit seinem Suchtdruck und den Risikotrinksituationen. Das automatisierte Trinkver­halten von Paul (Alkohol sehen/an Alkohol denken → Al­koholverlangen → Trinken) wurde unterbrochen.

Zu 3: Im Rahmen der Rückfallprävention lernte Paul, dass es nicht nur darauf ankommt, einen Rückfall zu vermeiden, sondern dass es genauso wichtig ist, aus einem »Ausrut­scher« keinen Dauerzustand zu machen. Daraufhin habe ich einen Notfallplan entwickelt und mit ihm vereinbart, dass er die Telefonnummer von seinem Hausarzt und sei­nem alkoholkranken (seit 10 Jahren abstinent lebenden) Freund immer bei sich haben sollte. Außerdem sollte er die Situation schnell verlassen und in der Psychiatrie oder beim
diensthabenden Arzt anrufen. Darüber hinaus lernte Paul, über eigene Gedanken in Risikosituationen zu reflektieren. In Risikotrinksituationen gehen ihm ständig Gedanken durch den Kopf wie »Wenn ich jetzt trinke, wird der Tag vollkommen sein«, »Alle gön­nen sich was nach einem angespannten Tag«. Diese Gedan­ken münden meistens in so genannte erlaubniserteilende Gedanken wie »Ich werde nicht mehr als ein Glas Bier trin­ken, dies kann nicht so gefährlich sein«, »Ein Bier schadet nicht«. Dem Gedanken folgt die Handlung des Trinkens. Jede Kette dieser Gedanken wurde analysiert und reflek­tiert. Wichtig ist, dass Paul lernen konnte, diese Gedanken im Alltag zu reflektieren. Weiterhin wurden soziale Verführungssituationen iden­tifiziert (Geburtstagsparty, Treffen mit Freunden zum Es­sen, Partys mit Arbeitskollegen, Sommer-, Weihnachtfeste etc.). Es war wichtig für Paul zu lernen, durch Rollenspiele und Ablehnungstraining die Trinkangebote der Freunde, Bekannten und der Arbeitskollegen bestimmt und höflich abzulehnen. Vor dem Hintergrund der Charakterstrukturen von Paul war dies notwendig. Im Laufe der Übungen kam er zu dem Schluss, dass es für ihn einfacher wäre, allen ­Bekannten, Freunden (Ausnahme: Arbeitskollegen) offen mitzuteilen, dass er alkoholkrank sei und dass sein Thera­peut und sein Arzt ihm vom Trinken abgeraten hätten. Trotzdem habe ich Paul ermuntert, soziale Verführungs­situationen aufzusuchen und zu versuchen, das Gelernte in Bezug auf das Ablehnungstraining umzusetzen. Die er­lebten Erfahrungen wurden in den Einzelsitzungen ausge­wertet.

Zu 4: Im Laufe der Therapie ist Paul der Zusammenhang zwischen einer ausgeglichenen Lebensführung und dem abstinenten Leben deutlich geworden. Deshalb war es not­wendig, zu versuchen, den Patienten bei der Lösung part­nerschaftlicher Probleme zu unterstützen. Ich habe seine Frau zu einem Gespräch eingeladen. In der Paarberatung ging es darum, Situationen herauszuarbeiten, die im Rah­men der Paarbeziehung die Abstinenz von Paul gefährden könnten. Zum Beispiel: Die Verfügbarkeit von Alkohol zu Hause und Streit in der Familie. Es wurde besprochen, wie man Geburtstage oder andere Treffen mit Freunden ohne Alkohol organisieren könnte. Gleichzeitig war es wichtig, die wiederholten Enttäuschungen und gegenseitigen Ver­letzungen aufgrund der Alkoholerkrankung des Partners zu verarbeiten. Da ich Bezugstherapeut von Paul bin, war es mir wichtig, dass die Paartherapie im Allgemeinen bei einem meiner Kollegen stattfindet. Sowohl Paul als auch seine Frau haben sich darauf eingelassen und gefreut. Meistens wird Alkohol missbraucht, um eigene Gefühle regulieren zu können. Dies ist notwendig, wenn wir nicht gelernt haben, unsere Gefühle als normale psychische und körperliche Reaktionen wahrzunehmen und zu akzeptie­ren. Hier war es wichtig, dass Paul seine Biographie reflek­tierte. Der Vater war auch Alkoholiker. Er hat alles in der Familie bestimmt. Auch Paul hatte nach der Pfeife des Va­ters tanzen müssen. Für Gefühle und Zärtlichkeiten gab es keinen Raum. Der Vater war meistens abwesend. In den Ta­gen, wo er zu Hause war, hat er Angst und Terror verbrei­tet. Ohrfeigen gehörten zum Alltag. Paul hat als Kind lernen müssen, dass seine Gefühle, sein Ärger oder Wut nur Be­strafung mit sich brachten. Entsprechend ist er im Alltag unsicher und konfliktscheu. Er hat auch als Jugendlicher gelernt, dass seine Traurigkeit und Einsamkeit nur durch ­Alkohol zu bewältigen seien. Paul lernte im Rahmen der Therapie, seine Gefühle zu identifizieren, zuzulassen, zu akzeptieren und konstruktiv mitzuteilen. Zusätzlich hat er
mühsam gelernt, Achtsamkeitsübungen im Alltag zu in­tegrieren, um die eigenen Gefühle herunterregulieren zu können. Das Erlernen eines konstruktiven Umgangs mit den eigenen Gefühlen, war eine Grundvoraussetzung für eine gesunde gefühlsorientierte Kommunikation, die Paul mit sich und seiner Umgebung in Einklang und Harmonie bringt. Das Abschlussgespräch nach etwa 1,5 Jahren therapeu­tischer Begleitung, war sowohl für mich als für Paul sehr bewegend. Paul hat es geschafft, sein Leben umzustellen und seine Suchterkrankung zu kontrollieren. Darauf war ich stolz, und darüber habe ich mich riesig gefreut.

Literatur

Seele – Sucht – Sehnsucht, Mathias Jung, emu-Verlag