Das jüngste Gericht: Nano-Food, Gen-Food, Functional Food – was die Industrie künftig auftischen will

»Wir sind invertierte Utopisten: Während Utopisten dasjenige, was sie sich vorstellen, nicht herstellen können, können wir uns dasjenige, das wir herstellen, nicht vorstellen.« Günther Anders in »Die atomare Drohung«

Heute erst recht hätte Günther Anders allen Grund, uns »umgekehrte Utopisten« zu nennen: Denn längst schon können die meisten Menschen sich nicht mehr alles vorstellen, was heute tatsächlich herstellbar ist. Eine heute kaum vorstellbare Zukunft beginnt aber nicht erst mit der Raumfahrt oder einem Leben in fernen Galaxien – sondern zum Beispiel mit folgenden Trends, Hochrechnungen unserer heute schon ablesbaren Geschmacks- und Esswünsche. Sie sollen den verwöhnten Überflussgesellschaften ungeahnte Kicks und neue Genussmotive bringen, hoffen die Marketingstrategen im Lebensmittelhandel. Diese Food-Trends hat der Trendforscher Stephan Sigrist vom renommierten Gottlieb Duttweiler-Institut in der Schweiz für die Studie »Food Visionen für übermorgen«1 erarbeitet und formuliert – und durchaus ernst gemeint:

So stellt Sigrist sich etwa die Frage, welche Essbedürfnisse die immer flexibleren Menschen in einer immer komplexeren Welt prägen, »wenn Nahrungsmangel kein Problem mehr ist«. Zwar ist aktuell allein schon die Annahme einer Welt ohne Hunger eine Utopie. Aber die Studie »Food Fictions« geht von neuen Wünschen in den reichen Industrienationen aus und leitet aus ihnen sowie aus Innovationen aus Forschungslabors etliche radikale Food-Trends ab. Die werden wohl nicht alle wahr, aber tendenziell sehr wohl möglich. Dabei lässt sich ablesen, dass aktuelle Technologien wie Nano- oder Gentechnologie dabei Pate stehen. Ganz obenan auf der Speisenkarte von übermorgen steht »Ultra Convenience Food« – das schnellste Essen aller Zeiten. Denn Convenience, das weiß die aufgeklärte Verbraucherin schon heute, ist halb- oder ganz fertige Nahrung, auf jeden Fall solche, die – auf jeden Fall bequem (= convenient, engl.) ganz fix fertig ist.

Nicht mal eine Stunde Zeit zum Essen

Nur noch durchschnittlich 47 Minuten pro Tag verbringen Durchschnittsbürger laut Deutschem Ernährungsbericht 2004 schon jetzt mit mehr oder weniger hastiger Nahrungsaufnahme. Verstärkte Convenience, so die Studie, soll auch in der Welt von morgen zu den wichtigsten Wachstumstreibern des Food-Marktes gehören. Denn: »Zunehmend suchen Konsumenten nach Lebensmitteln, welche die Ernährung einfacher und schneller machen.« Als radikale Trends werden Depot-Lebensmittel erwartet, die nur noch einmal pro Woche gegessen werden müssen; vielleicht ein Zugeständnis an jene über 50 Prozent der Haushalte, in denen schon jetzt gar nicht mehr oder eben höchstens ein Mal pro Woche gekocht wird. Zudem soll es »Trink- oder Geruchsnahrung in allen Formen und Geschmacksrichtungen« geben. Oder wie wäre es auf der Suche nach einem neuen Kick mit »Taste, Mood & Mind Food« – dem Essen aus dem Labor für sämtliche Sinne? Denn der Trendforscher setzt voraus: »Der Wunsch nach immer intensiveren emotionalen Erlebnissen beim Essen wächst. Während heute erst Geschmacksstoffe künstlich hergestellt werden, können in Zukunft auch andere Sinneswahrnehmungen mit Lebensmitteln ausgelöst werden.« Geschmacksrezeptoren in Gaumen oder Gehirn könnten dann gezielt stimuliert werden. Dann sollen völlig neue unbekannte Geschmacksstoffe herkömmliche Lebensmittel prägen. Mind-Food wiederum soll etwa beim Nasi-Goreng-Verzehr die ganze visuelle und geruchliche Wahrnehmung einer Indonesienreise vermitteln. Noch nie waren Fernreisen so preiswert – und morgen früh sind wir wieder im Büro. Dort kommt uns vielleicht der nächste Trend zustatten:

»Health-Food« – das Medikament auf dem Essteller

Hier sollen Fortschritte aus der biomedizinischen Forschung vermehrt in Lebensmitteln verwendet werden, und mit regelmäßiger Einnahme sollen chronische Erkrankungen behandelt werden können. Diäten könnten dem Krankheitsbild angepasst werden, die Nahrung sich einem Arzneimittel annähern. So werden Lebensmittel immer spezifischer mit gewünschten Inhaltsstoffen funktionalisiert, es dürfte Esswaren mit Bakterien geben, die in der Lage sind, Vitamine und Arzneimittel im Verdauungssystem selbst herzustellen. Ungesunde Inhaltsstoffe werden »nach einem Festmahl durch spezifische Antikörper aus dem Organismus entfernt« verheißt die Studie.2

»Enhancement Food« – macht jung, schlau und schön

To enhance heißt verbessern, und weil so vieles an uns verbesserungsbedürftig ist, und um die Konkurrenz auszuschalten, gibt es das entsprechende Futter: Frühstücksflocken, die gescheit machen, mittags das Anti-Aging-Filet, und dazu die Tomate mit Botox-Effekt – natürlich ebenfalls ohne jede Runzel. »Immortal Food« – hält fast ewig, d. h. es sind Lebensmittel, die nicht mehr altern. Und übertreffen kann das Ganze nur noch die Variation »No Food«. Aber die bringt nun wieder keinen Spaß am Essen. Denn: als abstrakteste Version wird denkbar, »das Essen aus der Erlebniswelt des Menschen zu streichen«. Gedacht ist etwa an »intravenöse Ernährung mit Stimulation von Geschmacksempfindung, oder an Ernährung durch Symbionten, die im Magen alle notwendigen Inhaltsstoffe produzieren«. Wer sagt denn, dass Essen immer Spaß machen muss? Insgesamt soll es zunehmend Produkte geben, die mehrere verschiedene Verbraucherwünsche zugleich erfüllen. Es werde deshalb mehr Produkte geben, die Genuss, Gesundheit, Convenience, Haltbarkeit und Frische in sich vereinen.

Neben Gen-Tech: Geheimtipp Nano-Food

Und was seit langem und immer noch über 75 Prozent aller Deutschen ablehnen – Genfood, also gentechnisch veränderte Lebensmittel oder Gen-Nahrung vom Acker – kommt dazu auf den Labortisch, pardon – Esstisch. Und nicht nur das: jetzt kommt als neuer Geheimtipp (und das kann man doppelt wörtlich nehmen) noch Nano-Food dazu. Beide High-tech-Variationen sollen eine »nachhaltige und effiziente Herstellung von Lebensmitteln ermöglichen«. Vielleicht denken Sie jetzt: »Die spinnen, die Schweizer.« Oder Sie fragen sich bang und ungläubig: Wie soll das denn nur alles gehen? Dann werden Sie staunen: die Kleinsten werden bei diesem Zauber die größten sein. Nano-Food wird etliche der unglaublichsten Veränderungen unserer Nahrung bewirken. Und auch das ist ernst gemeint – und – wir müssen uns darauf einstellen – auch ernst zu nehmen.

Deutschland stellt Nano-Aktionsplan vor

»Wir werden in Deutschland dafür sorgen, dass wissenschaftlich exzellente Ergebnisse in der Nanotechnologie schneller und effizienter in Produkte von morgen umgesetzt werden«, sagte Bundesforschungsministerin Annette Schavan, am 6. November 2006 bei der Vorstellung der »Nano-Initiative – Aktionsplan 2010«. Laut Schavan ist Deutschland in der Nanotechnologie in Europa führend. 2005 investierte Deutschland rund 310 Millionen Euro für Forschung und Entwicklung von Nanotech, 2006 dürfte diese Zahl auf über 330 Millionen Euro steigen. Derzeit sind bereits 600 Unternehmen auf diesem Sektor tätig, Nanotechnologie soll bereits rund 50 000 Arbeitsplätze geschaffen haben. Für 2015 wird weltweit ein Volumen von über 1 Milliarde Euro prognostiziert.3 Zum Nano-Hype passt auch eine Pressemitteilung des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMF) vom 10. Oktober 2006. Sie beginnt mit der Klage über die Zunahme ernährungsbedingter Krankheiten wie Diabetes und Fettsucht und kommt dann schnell zu ihrem zentralen Thema: »Um dem entgegen zu wirken, unterstützt das Ministerium die Untersuchung der molekularen Grundlagen der Ernährung. Ziel ist es, bedarfsgerechte Lebensmittel herzustellen, die der Verbesserung der Lebensqualität dienen. Es unterstützt daher 14 Forschungsvorhaben mit insgesamt rd. 13 Millionen Euro. Wichtiger Partner ist die Industrie. Die 28 beteiligten Industrieunternehmen investieren ca. 4,3 Millionen Euro in diese Maßnahme. Mit ›funktioneller Ernährungsforschung‹ sollen in den nächsten drei Jahren molekulare Daten generiert werden, die Aufschluss über die Interaktion von Mensch und Lebensmitteln geben. So gewonnene Erkenntnisse werden dann für die Herstellung bedarfsgerechter Lebensmittel verwendet, um der Gefahr ernährungsbedingter Krankheiten vorzubeugen. Je besser bekannt ist, wie sich Nahrung im Körper verhält und wie ernährungsbedingte Krankheiten entstehen, umso eher können neue funktionelle Lebensmittel hergestellt werden. So sollen beispielsweise neue Salz-Geschmacksverstärker gefunden werden, um kochsalzarme Lebensmittel ohne Geschmacksverlust zu entwickeln, da ein erhöhter Kochsalzkonsum zu stärkerem Bluthochdruck führt. Im Zentrum stehen zudem Untersuchungen zum Einfluss probiotischer Bakterien auf Entzündungsprozesse im Darm und die Herstellung gesundheitsfördernder Eigenschaften von Kaffee.«

Die Zukunft hat schon begonnen – etwa so:

In Israel erprobt man die Verstärkung des Kaffeearomas mit Zucker und Aminosäuren. In Nanotröpfchen eingekapselt könnte beides auf die Kaffeebohnen gesprüht werden, und erst wenn heißes Wasser hinzugefügt wird, platzen die Kapseln, und beide Zutaten reagieren mit dem Kaffee.

Kaum zu glauben:

»Wir werden in Deutschland dafür sorgen, dass wissenschaftlich exzellente Ergebnisse in der Nanotechnologie schneller und effizienter in Produkte von morgen umgesetzt werden.«

Annette Schavan, Bundesforschungsministerin

Das wahre Märchen von den Zwergen

Das ist nur eine von schon jetzt ungezählten Anwendungen der Nanotechnologie. Nanotechnik, die als Mega-Seller gehandelte Zukunfts-Technologie, hat ihren Namen vom griechischen Begriff »nanos«, und das heißt »Zwerg«. Mit Recht, denn es handelt sich hier um schier unvorstellbare Größen- oder besser Winzigkeits-Ordnungen: 1 Nanometer entspricht einem Milliardstel Meter, und allenfalls verstehbar wird der Vergleich mit dem fünfzigtausendstel Durchmesser eines Menschenhaares. Ein Phänomen ganz eigener Art: Stoffe verändern im Nanobereich ihre Eigenschaften. Es gelten nicht mehr die regulären physikalischen Gesetze, sondern die der Quantenphysik. Auch biologische Effekte sind zu beobachten, sind aber bislang weder zu erklären noch können sie eingeordnet werden. In Zukunft – geht es nach Wissenschaftlern, Nanotech-Produzenten und der deutschen Forschungspolitik – sollen die Zwerge aus dem atomaren oder molekularen Bereich eine Riesen-Bedeutung als Querschnittstechnologie mit breiter Anwendung erhalten und uns verstärkt im Alltag begegnen, wo sie sich übrigens auch jetzt schon vereinzelt tummeln. Zum Beispiel in Reinigungsmitteln, Lacken, wetterfesten Textilien, Batterien, Waschmaschinen – und neben Erwachsenen-Kosmetik auch in Baby-Badeschaum. Denn sie finden sich in den unterschiedlichsten Bereichen – Oberflächentechnik, Wasseraufbereitung, Hygiene, Pharma, Medizin, Verpackung – und eben auch und zunehmend in der Nahrungsmittelindustrie. Für die in den USA und Japan bereits weit vorangetriebene, dennoch in ihren Risiken weitestgehend unerforschte Nanotechnologie war zweifellos auf dem deutschen Verbrauchermarkt mit wenig Begeisterung zu rechnen, da sie bereits mit überwältigender Mehrheit (zu 75 %) Genfood und genveränderte Pflanzen dauerhaft ablehnt.

Bislang kaum eine öffentliche Debatte

Nanotechnologie ermöglicht auch neue Methoden, etwa organisches und anorganisches Material zu kombinieren. In den USA werden ca. 50 Prozent aller staatlichen Nano-Gelder für die militärische Forschung verwendet. Von einer öffentlichen Debatte war bislang nicht allzu viel zu hören. »Dabei werden die Verbraucher als wehrlose Versuchskaninchen für Nanoprodukte benutzt. Diese kommen unreguliert auf den Markt, obwohl die Nanotechnologie erhebliche Risiken bewirkt – wie die Rückholaktion eines Nano-Reinigungsproduktes infolge zahlreicher Vergiftungsfälle gezeigt hat«, warnt MdEP Hiltrud Breyer.4 Dabei hat die Zukunft der undurchschaubaren Zwergen-Aktivitäten bereits begonnen. So investieren bereits über 200 transnationale Lebensmittelgesellschaften in Nanotechnologie. »Excellence in Food«, ein weiteres Schweizer Strategiepapier für die Foodbranche, sieht es kommen: »Das völlig synthetische Food-Produkt, welches gänzlich von Food-Robotern zusammengesetzt wird.«

Nano outside – Nano inside …

Fleisch könnte »künstlich, d. h. tierlos, in Labors gezüchtet werden«, mit Food-Synthesizern könnten wir wie an einem Mischpult beliebige Lebensmittel aus den Rohstoffen herstellen. Die könnten die Menschen, je nach ihrer genetischen Grundausstattung, gezielt einkaufen. Universitäts-Wissenschaftler erproben Nano-Hühnerfutter als Alternative zu Antibiotika-Zusätzen, und die Pharma-Giganten Monsanto, Syngenta und BASF experimentieren mit Nano-Kapseln als Hülle für Pestizide, um sie leichtgängiger und bei Bedarf zeitverzögert in die Pflanzen zu praktizieren. Im Bereich der Lebensmittelherstellung agiert Nano-Technologie bereits auf zwei Feldern: »Nano-outside« etwa betrifft Verpackungen. Hier künden Farbzeichen von Nahrungs-Haltbarkeit und wechseln die Farbe bei Verfall. Preisetiketten ließen sich mit Sensoren so kombinieren, dass die Waren je älter, desto preisgünstiger werden. Nanopartikel könnten auch nachweisen helfen, wann die Ungenießbarkeit wirklich erreicht ist. Sie könnten aber auch dazu dienen, die Produkte haltbarer zu machen, etwa mit Effekten aus der Verpackung Mikroben abzutöten.5 Mit »Nano inside« hoffen Industrie und Handel auf Einsparungen. »Nano inside« soll helfen, ganz neue Produkte, die es so noch nie gab, zu erschaffen. »Nano inside« heißt, dass Nano-Partikel in Lebensmittel eingeschleust werden. So setzen die Global Player der Lebensmittelindustrie – Kraft, Nestlé, Unilever – Nanotechnologie bereits ein, um die Struktur von Nahrungsmitteln zu verändern. Kraft etwa arbeitet an so genannten interaktiven Drinks, die mit Hilfe von Nano-Kapseln beim Schütteln ihre Farbe und den Geschmack verändern können. Auch eine Zauber-Pizza wäre mit Hilfe von Nanotech denkbar: Die hohe Veränderungsbereitschaft von Materie im Nanobereich lässt Food-Experten darüber nachdenken, eine TK-Pizza zu kreieren, die bei drei verschiedenen Mikrowellen-Temperaturen je verschieden schmeckt: bei 150 Grad »Napoli«, bei 200 Grad »Funghi« – und so weiter. Und Milch, die – falls verdorben – ihre Farbe von weiß nach rot wechseln lässt, liegt durchaus im Bereich des Möglichen. Mit Nano-Technik ist es auch möglich, Kombinationen aus organischer und anorganischer Substanz einzubringen. Wie das im Stoffwechsel wirken soll, ohne gefürchtete Verklumpungen im Magen-Darm-Bereich, ist eines der noch nicht so recht gelösten Probleme. Eine kleine Menge anorganischer Nano-Substanz nehmen viele allerdings seit Jahren regelmäßig zu sich, und Fachleute finden sie »gut erprobt und unbedenklich«: Siliziumoxid, das in Form kleinster Teilchen z. B. im Ketchup dafür sorgt, dass er schön dickflüssig ist. Oder wir essen es im Mars-Schoko-Riegel mit, wo es in einer Schutzschicht Verwendung findet. Jedenfalls besitzt der Hersteller ein entsprechendes Patent. Unilever braut Nanopartikel-Emulsionen, um Eiscreme noch geschmeidiger zu machen. Andere erfinden Nano-Kapseln, die Nähr- und Geschmacksstoffe zielsicher, schnell und robust in den menschlichen Organismus einschmuggeln. Solche Nahrung nennt man dann »Nanoceuticals« – was auf einen ähnlichen wie einen pharmazeutischen Effekt hindeutet. So empfahl sich für die 1998 begonnene Nano-Diskussion um Risiken und Chancen eine ähnliche Strategie wie die, die 1984 die Gentechnik-Debatte prägte: sie nämlich »… strikt intern zu Ideal für Fleischesser: Ab in die Mikrowelle und schon haben Sie eine Pizza mit Salami … führen, da sonst Grundsatzdiskussionen ausbrechen könnten« – alles übrige sollte dann in einer Akzeptanzdiskussion geregelt werden.6 Die über Nano-Tech ist 2006 in einer so genannten Konsensus-Diskussion mit 18 Personen nach vorheriger Schulung geführt worden. Das Motiv des deutschen Bundesinstituts für Risikobewertung (BfR): »Die frühzeitige Kommunikation über den denkbaren Einsatz und mögliche Risiken von Nanomaterialien in Lebensmitteln und Verbraucherprodukten wird für die gesellschaftliche Akzeptanz der Nanotechnologie von entscheidender Bedeutung sein.«7 Die Teilnehmer der Diskussion schätzten einhellig Nano bei Lebensmitteln als ein »sehr sensibles Gebiet« ein und fordern hohe Verantwortung der Industrie ein. Bedauerlicherweise stand kein Vertreter der Lebensmittelindustrie für Stellungnahmen und Diskussion zur Verfügung. So blieben gerade auch Fragen zu Baby- und Kindernahrung unbeantwortet. Bedauert wurde auch, dass in der Forschungsförderung für Nanotechnologie in Deutschland und der EU nur ein minimaler Anteil für Risikoforschung vergeben wird. Die Konferenz forderte eine Kennzeichnungspflicht »Nano«, damit der Verbraucher ein Wahlrecht hat und möglichen Täuschungen entgehen kann. Gefordert wurde ebenfals ein Zulassungsverfahren für nano-skalige Lebensmittel und deren Verpackungen.

900 Patente an einen einzigen Forscher

»Die politisch Verantwortlichen folgen dem Hype um Nanotechnologie – ohne daß eigentlich klar ist, wohin die Reise geht – und die Industrie meidet jede Diskussion über eine Regulierung. So wurden schon bislang ohne öffentliche Debatte Fakten geschaffen«, beklagt die langjährige Grünen-Abgeordnete im Europa-Parlament, Hiltrud Breyer, »bei der Risiko-Analyse gibt es ein riesiges schwarzes (Erkenntnis-)Loch. Während Risikoforschung und Regulierungen über Kennzeichnung längst überfällig sind, werden schwunghaft Forschungsmittel mit hohen Steigerungsraten vergeben und Patente erteilt. Nach Recherchen der kanadischen ETC-Group ist Patent-Spitzenreiter ein chinesischer Forscher, der sich über 900 Patente auf die Nanoversionen traditioneller chinesischer Heilpflanzen gesichert hat.«

Warnung vor unkalkulierbaren Gefahren

Toxikologen sind alarmiert. Sie warnen vor unkalkulierbaren Gefahren für die Gesundheit, wenn die »Wunderzwerge« in Kontakt mit unserem Organismus geraten. Zwar können sie die Eigenschaften von vielerlei Alltagsprodukten verbessern – von Farben, Fenstersprays, Sonnencremes, Kaugummis, Tabletten und Dutzenden weiterer Dinge. Aber niemand weiß, was die Nano-Partikel anrichten, wenn sie eingeatmet, über die Haut aufgenommen oder eben geschluckt werden. Der Forscher Wolfgang Kreyling vom renommierten GSF-Forschungszentrum für Umwelt und Gesundheit in Neuherberg bei München hält nur eines für sicher: Alle diese Partikel sind ausgesprochen unberechenbar. »Wir haben bei unseren Tests schon Überraschungen erlebt, sagt er: Partikel, von denen wir glaubten, dass sie keine biologische Wirkung zeigen, taten es dann doch – insbesondere, wenn sie kleiner als 100 Nanometer waren.« Was solche Nanopartikel auf Dauer anrichten können, ergründen Wissenschaftler erst nach und nach und ganz sicher auf absehbare Zeit nicht vollständig. So konnten Forscher für Umweltmedizin an der Universität Düsseldorf8 nachweisen, dass bestimmte Partikelarten – etwa in Farben verwendete – die Funktionen des menschlichen Zellkerns stören. Vorausgesetzt, sie werden genügend hochkonzentriert verwendet. In Rochester USA ließen Wissenschaftler Laborratten eine größere Portion Nanopartkel inhalieren. Das führte zu Kreislaufschäden. Auch Hirnschädigungen sind nicht auszuschließen. Peter Wiedemann, Experte am Forschungszentrum Jülich: »Sicher ist, dass es ein Risikopotential gibt.« Wie kritisch das Risikopotential der Nanotechnologie einzuschätzen ist, zeigt die Debatte bei großen Versicherern, Swiss Re und Allianz/OECD, die auf rasche öffentliche Debatte und gründliche Regulierung drängen. In ihren ausführlichen Abwägungen wird klar, dass es sich bei der Nanotechnologie um eine Risikotechnologie ähnlicher Größenordnung wie Atom- oder Gentechnologie handeln dürfte. Dazu ist eine Veröffentlichung der Oxford University-Press9 interessant, die nachfragt, warum manche Risiken soviel mehr Beunruhigung, Angst oder Aufregung als andere auslösen, offenbar ungeachtet der wissenschaftlichen Einschätzung ihrer eigentlichen Bedenklichkeit. Aus einer entsprechenden Studie sind 11 Faustregeln hervorgegangen. Es lohnt sich, sie jeweils in Beziehung zu Risikotechnologien wie Atom-, Genoder Nano-Technologie zu setzen: Ein Risiko ist im allgemeinen besorgniserregender (und wird weniger akzeptiert), wenn es wahrgenommen wird als:

  1. Unfreiwilliges Risiko – etwa Belastung durch Umweltverschmutzung – und nicht aus freiem Willen oder auf eigene Gefahr in Kauf genommen wie gefährliche Sportarten oder das Rauchen.
  2. Ungerecht verteiltes Risiko – einige Menschen profitieren davon, während andere unter den Folgen zu leiden haben.
  3. Risiko, das auch durch persönliche Vorsichtsmaßnahmen nicht zu vermeiden ist.
  4. Risiko mit unbekannter oder neuartiger Ursache.
  5. Von Menschenhand geschaffenes, nicht naturgegebenes Risiko.
  6. Ein Risiko, das unsichtbare und irreversible Schädigungen verursacht – z. B. indem sich Erkrankungen als Folge erst viele Jahre später zeigen.
  7. Ein Risiko, das besonders kleine Kinder oder Schwangere, oder ganz allgemein die folgende Generation gefährdet.
  8. Eine Bedrohung, durch eine besonders gefürchtete Art zu sterben – durch eine schwere Erkrankung oder Verletzung.
  9. Risiko, dessen Opfer nicht anonym sind, sondern Menschen, die man kennt.
  10. Ein Risiko, über das die Wissenschaft nur wenige Erkenntnisse hat.
  11. Ein Risiko, über das widersprüchliche Aussagen von verantwortlichen Stellen oder, was noch schlimmer ist, von ein und derselben Stelle vorliegen.

Literatur:

1  Lebensmittelzeitung Spezial: Food Trends – die Entdeckung neuer Genußmotive, Heft 3/2006

2  Stephan Sigrist: Food Fiction, Gottlieb-Duttweiler-Institut 2006

3 CORDIS focus, newsletter, Nr. 273, Dezember 2006

4 www.nrw-on.de/Oberberg

5 www.tagesanzeiger.ch

6 Zitat: Gentechnologie: Chancen und Risiken, München 1984, S. 98

7 Deutsches Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR), Mitteilung v. 22. 8. 2006

8 www.stern.de/wirtschaft

9 Bennett, Peter und Calman, Kenneth (1999): Risk Communication and Public Health. Oxford University Press, Box 1.1. S. 6