»Der Therapeut sollte ein sicherer Hafen für den Patienten sein«

Dr. Mathias Jung im Gespräch mit Dipl. Psych. Hassan El Khomri

Mathias Jung: Lieber Hassan, ich begrüße dich als künftigen Kollegen. Ich freue mich besonders darüber, dass du Diplompsychologe bist, klinischer Psychologe und Gesundheitsberater GGB. Ich bin glücklich, dass wir ab sofort, zusammen mit der erfahrenen Psychotherapeutin Martina Möbius, ein komplettes psychotherapeutisches Angebot haben. Du wirst jeden Montag ab 10.00 Uhr ganztägig zur Verfügung stehen. Du stammst aus Marokko. Was hast du da ausbildungsmäßig gemacht?
Hassan El Khomri: Ich bin in einem kleinen Dorf geboren, und dort auch bis zum elften Lebensjahr geblieben. Ich habe da die Grundschule besucht. Es war schwierig. Wir mussten als Kinder mindestens 4 Kilometer zu Fuß gehen, um die Schule besuchen zu können.

Wie viele Geschwister wart ihr?
Wir sind elf Geschwister, ich bin der Elfte. Ich habe eine Schwester, die vor mir war. Sie ist schon gestorben. Nach der Grundschule musste ich die Familie verlassen. Wir waren drei Jungs. Wir haben an einem anderen Ort zur Miete gewohnt, damit wir weiter in die Oberschule gehen konnten.

Ihr wart getrennt von den Eltern?
Ja, wir mussten mit 11 Jahren alleine kochen, uns selbst versorgen.

Das waren schwere Jahre.
Ja. Wir hatten ständig Heimweh und kaum Geld. Aber gleichzeitig wussten wir als Kinder, dass wir keine andere Chance hatten. Nur wenn wir weiter in die Schule gehen konnten, hatten wir eine Aufstiegsmöglichkeit in unserer Gesellschaft. Nach meinem Abitur wollte ich eigentlich Psychologie studieren.

Damals schon?
Ja. Es war aber aus mehreren Gründen nicht realisierbar. Besonders aus finanziellen Gründen war es nicht möglich.

Was hat dein Vater beruflich gemacht?
Mein Vater ist ein Koranlehrer, aber in dieser Zeit ging es uns finanziell nicht so gut. Dann musste ich ein Studium an einer Uni wählen, wo es ein Studentenheim gab. Ich habe mich für Jura entschieden. Ich habe fünf Jahre Jura studiert, mein Studium auch abgeschlossen. Die Studiumszeit war erfahrungsreich.

Die Verhältnisse in Marokko waren schlimm. Es gab Unterdrückung und viel Armut.
Es war gefährlich, sich politisch zu engagieren, aber es war eine schöne, neue Erfahrung für mich. Ich habe viele andere gute Menschen kennenlernen dürfen, die ebenfalls Interesse hatten, etwas in der Gesellschaft zu bewegen. Bestimmte Ideale und Utopien waren in dieser Zeit besser, als die Realität zu akzeptieren. Es hat mir viel geholfen.

Ist es auch heute noch so, dass für dich als Psychologe das gesellschaftliche Engagement wichtig ist?
Psychologie sollte nie dazu führen, nur das Bestehende zu unterstützen. Die Psychologie sollte den Menschen auch dabei helfen, die Gesellschaft von außen zu betrachten und nach Alternativen Ausschau zu halten. Es wird ihnen nicht viel nützen, wenn wir Therapeuten immer nur versuchen, dem Menschen an sich zu helfen, aber das Umfeld, das die Menschen krank macht, ignorieren.

Das heißt es geht auch um ein Engagement für soziale Gerechtigkeit, Ökologie, Frieden, Toleranz gegenüber Ausländern und gegen Frauenfeindlichkeit.
Das sind alles Sachen, die dazugehören, damit die Menschen psychisch gesund bleiben. Es hilft nicht viel, wenn wir Therapie machen, aber auf dem Arbeitsmarkt werden die Leute schlecht behandelt, haben keinen Einfluss auf ihre Umwelt und werden krank.

Hattest du in Marokko keine Zukunft?
Nein. Ich habe versucht, als Jurist zu arbeiten. Aber es ging nicht unter den politischen Umständen. Ich habe mich mit einem Freund zusammengetan. Wir haben im Tourismus gearbeitet.

Du bist dann nach Deutschland gekommen. Woher hattest du den Mut, in einer neuen Sprache ein Studium aufzunehmen, nämlich deinen alten Traum, die Psychologie?
Wenn ich auf mich alleine gestellt gewesen wäre, hätte ich das nicht geschafft. Ich wollte am Anfang eine Heilpraktikerausbildung machen. Als ich in das Bruker-Haus kam und mehrere Vorträge genießen konnte, habe ich gesagt, ich mache die Heilpraktikerschule und zusätzlich die Gesundheitsberater-Ausbildung. Ilse Gutjahr hat mir dann geraten, Psychologie an der Universität zu studieren.

Was hast du im Studium in Gießen gelernt? Es ist ja zum Teil auch ein strenges, fast mathematisches Studium.
Für mich war die Entwicklungspsychologie spannend, aber auch Sozialpsychologie und Arbeitspsychologie. Im Grundstudium war die Entwicklungspsychologie für mich aufschlussreich.

Die Entwicklungspsychologie des Menschen? Wie der Mensch sich entfaltet.
Ja genau, wie der Kontakt zwischen Mann und Frau entsteht, warum jemand so handelt oder so denkt und wie uns unsere Erfahrungen auch schon im Mutterleib prägen. Wie die Interaktion der Eltern die Entwicklung des Kindes beeinflusst. Welche Fähigkeiten Kleinkinder haben. Was können Erwachsene machen, damit ihre Kinder sich besser entfalten? Was haben wir als Erwachsene verpasst? Das sind alles bedeutsame Fragen.

Worüber hast du deine Diplomarbeit dann geschrieben?
Über »Bindung«. Das Thema hat mich interessiert, ich habe viel darüber gelesen. Ich habe während meines Praktikums am Unikrankenhaus in Gießen einen Professor kennengelernt. Der hat in dieser Zeit versucht, einen wissenschaftlichen Fragebogen zu entwickeln, um Bindungsmuster zu erfassen.

Du bist tief in die Bindungstheorie und die schwierige moderne Bindungspraxis eingedrungen.
Es war hilfreich zu wissen, wie sich neurologische Verhaltensweisen aufgrund von Bindungsstörungen entwickeln können: Zusammenhänge zwischen Bindungen und Depression oder Zusammenhänge zwischen Bindungen und Persönlichkeitsstörungen, auch Einfluss von Bindung auf die Entwicklung von Kindern. Bindung und Lernen, Bindung und Umgang mit Stress-Situationen, all das spielt eine große
Rolle. Die Bindung zur Mutter ist wichtig auch für die Bindung zwischen Mann und Frau. Es ist die erste Bindungserfahrung des Lebens. Das hat mich fasziniert.

Für mich war es eine reiche Erfahrung. Ich habe das erste Mal alleine versucht, eine Untersuchung durchzuführen, zu evaluieren, zu kritisieren, was ich selbst da falsch und was ich richtig gemacht habe. Ich hatte auch die Gelegenheit, das Neueste, was sich in der Bindungsforschung ergeben hat, zu erfahren und kritisch zu betrachten. Auch in der therapeutischen Beziehung geht es darum, dass die Patienten neue Bindungserfahrungen machen. Der Therapeut sollte eine sichere Basis, ein sicherer Hafen für den Patienten sein, damit dieser in die Lage versetzt wird, neue Erfahrungen einzugehen.

Ohne Liebe funktioniert das nicht. Das ist das A und O, das ist der erste Faktor in der Psychotherapie. Die liebevolle und von Respekt getragene therapeutische Beziehung ist das Wichtigste. Genau das wird meistens vernachlässigt in Kliniken, wo der Zeitdruck so groß ist. Da wird auf so etwas nicht geachtet. Es geht darum, bestimmte Kriterien zu erfüllen, und das war es. Manchmal ist ein Therapeut nach ein oder zwei Wochen krank, dann kommt ein anderer Therapeut. Wenn der mal nicht da ist, kommt der nächste. Da entsteht keine Bindung.

Was hat Ernährung zu tun mit Psychologie?
Die Ernährung spielt eine große Rolle. Für mich war die Ausbildung zum Gesundheitsberater GGB wichtig. Ernährung und Psychologie sind Dinge, die man nicht trennen kann. Sie gehören aus einem einfachen Grund zusammen: Wie wir uns ernähren, zeigt auch, wie wir uns selbst wahrnehmen und wertschätzen.

Wir sind nicht dazu da, um den Müll von den anderen zu essen, was andere für uns produzieren. Gesundheit ist ein Informationsproblem. Die Menschen sind nicht informiert. Und wenn jemand informiert ist und bleibt trotzdem beim Alten, so zeigt das nur, wie wenig er sich selbst wertschätzt und seine Gesundheit unbewusst vernachlässigt.

Es gibt auch biologische Zusammenhänge. Die Ernährung beeinflusst auch unseren Stoffwechsel. Sie hat Einfluss auf unsere Verhaltensweisen, auf unsere Stimmung und auf unsere Psyche: Wie wir die Welt wahrnehmen, wie wir damit umgehen. Körper und Geist sind nicht trennbar. Wir ernähren nicht nur unseren Körper, sondern auch unsere Psyche. Sie beeinflussen sich gegenseitig.

Welche Beratungs- und Therapiegebiete bei der künftigen Arbeit hier im Bruker-Haus sind dir besonders wichtig?
Ich werde auch Suchtberatung und -therapie anbieten, weil ich Erfahrung in diesem Bereich an der Vogelsbergklinik, wo ich jetzt praktiziere, gemacht habe. Ich kann sagen, dass ich mit den Betroffenen sehr gut zurechtkomme. Auch Depressionen, hier habe ich ebenfalls viele Erfahrungen sammeln können. Weiter sind es der komplexe Umgang mit Gefühlen und Gefühlsblockaden, Umgang auch mit Stresssituationen, aber auch Umgang mit bestimmten Störungen, zum Beispiel Tinnitus. Ich überlege, vielleicht auch eine Gruppe zu gründen, die sich auf Tinnitus spezialisiert. Die Betroffenen treffen sich regelmäßig unter Anleitung. Dann lernen sie den Umgang mit dieser Krankheit, die stark belastend ist. Lebenskrisen, aber auch traumatische Erfahrungen in der Kindheit gehören zu den Schwerpunkten meiner therapeutischen Arbeit.

Ich habe dich kennengelernt als einen begeisterten Gruppentherapeuten. In deiner jetzigen Tätigkeit arbeitest du auch mit Gruppen. Du führst ja auch schon mit mir zusammen Männergruppen im Haus durch.
Gruppentherapie liebe ich, weil sie außerordentlich hilfreich ist. Die Interaktion unter den Patienten und zum Therapeuten bewirkt viel in kurzer Zeit. Gruppentherapie ist nicht selten wirksamer als Einzeltherapie. Ich werde Gruppentherapie auch im Bruker-Haus anbieten, weil ich in der Psychosomatischen Klinik damit kostbare Erfahrungen gemacht habe.

Was erwartest du von den Menschen, die bei dir die Sprechstunde aufsuchen?
Ich glaube, viele hilfesuchende Menschen, die in dieses Haus kommen, merken, dass es leicht ist, sich hier zu öffnen und ihre Probleme zu offenbaren. Sie genießen die besondere Atmosphäre und die Art und Weise, wie die Menschen im Dr.-Max-Otto-Bruker-Haus freundschaftlich miteinander umgehen. Ich liebe dieses Haus. Ich liebe auch die Menschen, die in diesem Haus zu tun haben.

(Anmeldungen für Sprechstunden bei Dipl. Psych. Hassan El Khomry über die GGB-Zentrale 0 26 21/91 70 10, Frau Stephanie Equit).