»Deutschland ist meine Heimat geworden, das Land meiner Träume«

Du bist ein politischer Flüchtling. Was heißt das?
Ein Flüchtling ist eine Person, die aus politischen, religiösen oder wirtschaftlichen Gründen ihre Heimat verlassen muss. Der eigenen Heimat den Rücken kehren zu müssen, aus welchem Grund auch immer, bedeutet, sich von einem Teil der eigenen Persönlichkeit und Geschichte zu verabschieden, was einer Entwurzelung gleichkommt. Menschen verlassen ihre Heimat gezwungenermaßen, wenn die gewohnte Umgebung, die einem Sicherheit und Geborgenheit garantieren sollte, zu einer Quelle von Angst und Gefahr für Leib und Leben wird. Dies erleben wir zurzeit in vielen Ländern dieser Erde wie zum Beispiel Syrien, Afghanistan und Teilen von Afrika. Man ist seines Lebens nicht mehr sicher.
Ich bin kein politischer Flüchtling im engeren Sinne. Ich habe Schwierigkeiten mit dem Sicherheitsapparat des Landes wegen meiner politischen Meinung gehabt und bin mehrmals vor die Polizei zitiert worden. Aber dies war nicht der einzige Grund, warum ich mein Land verlassen musste. Sicherlich war der Drang, in Freiheit zu leben größer, als es die politischen Rahmenbedingungen in Marokko erlaubten. Aber auch der Drang sich weiterzuentwickeln und vor allem der Armut zu entfliehen, war nicht minder groß. Diese Kombination von Faktoren hat mir das Gefühl gegeben, dass ich in meinem Land mein Potential nie entfalten werde, dass ich nie in politischer Freiheit leben werde, dass ich als Mensch nichts wert bin und keine Stimme besitzen darf. Es war für mich sehr schmerzhaft, tagtäglich mitzuerleben, wie die Sicherheitskräfte und der Verwaltungsapparat mit den einfachen, armen Menschen umgehen. Korruption und Unterdrückung gehörten zum Alltag. Für mich bedeutet politischer Flüchtling, Schutz und Geborgenheit in einem fremden Land zu suchen und sich auf die Ungewissheit des Lebens in einem fremden Land einzulassen.

Wie war die Situation damals in Marokko?
In Marokko herrschte kein Krieg, wie es heute zum Beispiel in Syrien zu beobachten ist. Aber es war gefährlich, sich politisch außerhalb des von dem Regime abgesteckten Rahmens zu bewegen. Sich politisch zu engagieren bedeutete, das eigene Leben, die eigene »Freiheit« und die eigene berufliche Zukunft aufs Spiel zu setzen. Kurz gesagt, in ständiger Gefahr zu leben. Durch mein politisches Engagement als Student, durch Kontakte mit ehemaligen politischen Gefangenen und deren Familien, aber auch mit Familien, die ihre Angehörigen durch Folter im Gefängnis verloren hatten, war mir gewiss, was mich erwartet, wenn ich im Gefängnis lande. Trotzdem habe ich versucht, wie viele andere Kameraden, eine politische Veränderung zu bewirken. Aber die totale Unterdrückung hat bei uns damals zu einer Art Resignation und Hoffnungslosigkeit geführt. Wir standen vor der Wahl, uns extremen politischen Gruppierungen anzuschließen oder zu versuchen, die eigene Haut zu retten. Heute kann man sagen, dass das Land große Fortschritte im Bereich der Demokratie gemacht hat, was damals nicht zu erahnen war. Dies sollte aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass es immer noch gefährlich ist, den König, seine Familie oder bestimmte Köpfe des Sicherheitsapparats öffentlich zu kritisieren.

Warst du zugleich auch ein Armutsflüchtling?
Sicherlich. Als Kind zu erleben, dass es manchmal nichts zu essen gibt, dass das Überleben bedroht ist, mit 11 Jahren arbeiten gehen zu müssen, für sich selbst sorgen zu
müssen, als 8-Jähriger hungrig, mehr schlecht als recht bekleidet, manchmal barfuß im Winter in die Schule gehen zu müssen, prägt einen. Meine Familie lebte damals unter
der Armutsgrenze. Dies hat mich als jungen Studenten motiviert, mich politisch für eine bessere Gesellschaft zu engagieren, wo jeder seinen Platz hat. Es war mir wichtig, ein
besseres Leben für mich und viele andere unter die Räder geratene Menschen zu ermöglichen. Ich bin in einer Umgebung groß geworden, die von Armut und Entbehrung
geprägt ist.

Von so einer Umgebung zu fliehen, ist allzu legitim, denke ich. Die eigene Heimat wegen Armut zu verlassen, ist auch nicht weniger tragisch für den Einzelnen, als dies wegen der herrschenden politischen Verhältnisse zu tun. Außerdem ist die Trennung zwischen politischen und wirtschaftlichen Flüchtlingen fragwürdig und nicht zielführend. Denn fast in allen Ländern, die wirtschaftlich rückständig sind, sind auch die politischen Verhältnisse katastrophal. Es gibt wenige Länder, die politisch diktatorisch regiert werden und denen es gleichzeitig wirtschaftlich gut geht. Zum Beispiel die Golf-Staaten. Aber aus diesen Ländern
kommen auch wenige politische Flüchtlinge. Menschen, die ihre Familie und Kinder nicht ernähren können, geschweige denn ihnen eine Schulbildung anbieten können, sind Menschen, die mental und körperlich zerstört sind und keine Hoffnung mehr haben. Sie hören auf zu träumen und haben keine andere Wahl, außer sich gegenseitig zu bekriegen oder sich auf den Weg zu machen mit dem Risiko, im Mittelmeer zu ertrinken. Leider denken wir an diese Menschen erst, wenn es zu Katastrophen kommt. Wir nehmen ihren Tod als etwas Selbstverständliches hin. Wir sind deren Not gegenüber emotional verstummt.

Seit wann bist du in Deutschland?
Seit 13 Jahren.

Seit wann hast du die deutsche Staatsangehörigkeit? Warum ist sie Dir wichtig?
Seit ungefähr 7 Jahren bin ich deutscher Staatsbürger. Eigentlich bin ich von meiner Einstellung her Kosmopolit und glaube nicht an Grenzen zwischen Menschen und Völkern.
Aber Deutschland ist meine Heimat geworden, das Land meiner Träume. Hier habe ich die Möglichkeit bekommen, das zu sein, was ich bin. Es ist eine Art Liebe zu diesem Land und dessen Menschen entstanden. Und diese Liebe wird mit der Zeit immer stärker, wenn ich sehe, wie die Menschen mit Flüchtlingen umgehen, wie sie sich engagieren, wie sie ihr Herz und ihre Wohnungen für Menschen, die sie nicht kennen, öffnen, und dies in der Zeit von Terrorismus und Unsicherheit. Das ist großartig und zeugt von menschlicher Größe. Es bleibt mir nichts anderes übrig, als diese Menschen und dieses Land zu lieben.

Außerdem: Nachdem ich das Dr.-Max-Otto-Bruker-Haus und euch kennengelernt habe, habe ich das Gefühl bekommen, meine Heimat ist hier und kann nirgendwo anders sein.

Die deutsche Staatsangehörigkeit hat für mich auch praktische Gründe. Ich lebe hier in diesem Land und möchte auch das politische Leben beeinflussen können. Und nicht zuletzt ist sie für mich aus Sicherheitsgründen sehr wichtig: Wenn ich mit meinem deutschen Ausweis nach Marokko fliege, ist Deutschland in vieler Hinsicht für mich zuständig, falls etwas passiert. Gegenüber dem Rechtssystem in Marokko habe ich immer noch meine Bedenken. Die Gefahren von damals sitzen mir immer noch tief in den Knochen.

Wie war dein Empfinden bei der Ankunft in Deutschland? Erleichterung? Angst?
Eine Mischung aus beidem. Erleichterung, den ersten Schritt gemacht zu haben, den Unsicherheiten politischer und wirtschaftlicher Natur des Lebens in Marokko entkommen zu können. Andererseits Angst vor dem Neuen. Was auf mich zukommt, wie komme ich in der neuen Gesellschaft, mit der neuen Mentalität zurecht? Wie werde ich überleben? Werde ich meine Fähigkeiten zur Entfaltung bringen können? Werde ich akzeptiert? Gibt es viel Rassismus? Sind die Menschen freundlich und tolerant? Es waren viele Fragen, die mir durch den Kopf gingen und die ich im Laufe der Jahre in Deutschland beantwortet bekommen habe.

Bedeutet Migration für ein reiches Land wie Deutschland soziale Gefährdung? Oder ist es eine Chance?
Es hängt davon ab, wie wir mit dem Phänomen umgehen. Sicherlich hat die Politik und die Gesellschaft aus den Schwierigkeiten der Integrationspolitik in Deutschland viel gelernt. Deshalb habe ich keine Bedenken, dass die Flüchtlinge eine Bereicherung und Chance für Deutschland sind. Dass viele Flüchtlinge nach Deutschland kommen wollen, spricht für unser Land. Wir sind reich und eher in der Lage, aus den Situationen viele Chancen für uns alle zu gewinnen. Dies verlangt aber auch vereinte Kräfte von Politik und Zivilgesellschaft, was wir zurzeit auch tagtäglich spüren und erleben. Wir müssen nur lernen, uns nicht von den Scharfmachern spalten zu lassen.

Lieber Hassan, ich danke dir für deine Offenheit. Deshalb lieben wir dich. Wie schön, dass du bei uns in Sicherheit und Freiheit lebst! Der Dichter Homer, der in der mythischen Figur des Odysseus den berühmtesten Flüchtling der Weltliteratur geschaffen hat, beschreibt Not und Befreiung in einem knappen rhythmischen Hexameter: »Besser, wer fliehend entrann, als wen sie ereilet.«