Die homöopathische Anamnese

Frage:
Was ist das Besondere an der homöopathischen Anamnese? Kritiker behaupten immer wieder, die Homöopathie wirke nur deshalb, weil sich der Arzt so viel Zeit für den Patienten nimmt (»Zuwendungs-Medizin«).

Antwort:
Jede zwischenmenschliche Beziehung beginnt mit der ersten Begegnung. Unvoreingenommen, d. h. ohne Vorurteile, sollte sich der Arzt dem Patienten mit wachen Sinnen nähern. Alleine durch die neutrale Beobachtung erhält der Arzt wichtige Informationen.

Eine ausführliche homöopathische Anamnese steht am Anfang jeder Behandlung. Die sogenannte Erstanamnese sollte eine umfangreiche Befragung zu allen Lebensbereichen umfassen. Der Zeitaufwand für die erste »Bestandsaufnahme« beträgt gewöhnlich mindestens eine Stunde. Die homöopathische Anamnese wird gegliedert in Vorbericht, Spontanbericht, Gelenkter Bericht, Kopf-zu-Fuß-Schema, objektive Symptome, ggf. Fremdanamnese. Die Anamnese beginnt schon, wenn der Patient zur Tür hereinkommt und die Praxis betritt. Ziel jeder Anamnese (= Erinnerung) ist es, ein umfassendes Bild vom Menschen zu erhalten.

Die homöopatische Anamnese sollte von gegenseitigem Vertrauen und Respekt zwischen Arzt und Patient geprägt sein. Der Arzt sollte die Aussagen des Patienten zunächst nicht werten und möglichst unbefangen beobachten. Die Homöopathie ist eine personotrope, individualisierende Medizin. Letztlich dreht sich alles um die berühmte Frage: »Was ist das für ein Mensch?« Im »Organon der Heilkunst« widmet Samuel Hahnemann (1755 – 1843), der Gründer der Homöopathie, die Paragraphen 83 – 104 der Befragung des Patienten.

Bei der homöopathischen Anamnese werden an den Arzt folgende Anforderungen gestellt: »Unbefangenheit, gesunde Sinne, Aufmerksamkeit im Beobachten und Treue im Aufzeichnen« (§ 83). Aber auch Kritikvermögen und Einfühlungsvermögen sind gefordert: »Umsicht, Bedenklichkeit, Menschenkenntnis, Behutsamkeit im Erkundigen und Geduld« (§ 98). Der Patient soll sich während der Anamnese in seinem Leiden stets ernst genommen fühlen. Die Anamnese ist nach Hahnemann »das eigentlich nachdenklichste aller Geschäfte« und »die schwerste Arbeit« während der ganzen Behandlung (§ 104).

Der Arzt muss nicht nur Symptome sammeln, sondern besonders »die auffallenderen, sonderlichen, ungewöhnlichen und charakteristischen Zeichen des Krankheitsfalles sind fast einzig fest ins Auge zu fassen.« Um eben das Individuelle zu entdecken, braucht der homöopathische Arzt eine ununterbrochen hohe Aufmerksamkeit.

»Der Arzt schreibt alles genau mit denselben Ausdrücken auf, deren sich der Kranke und die Angehörigen bedienen. Womöglich lässt er sie stillschweigend ausreden . . .« (§ 84).

Literatur: Lehrbuch der Homöopathie, Hippokrates, 7. Aufl.

Autor: Dr. med. Jürgen Birmanns

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