Lebenskrisen – Menschen im festen Griff der Corona-Krise

Ein Bericht von Dipl.-Psych. Hassan El Khomri, Psychologischer Psychotherapeut im Dr.-Max-Otto-Bruker-Haus

„Diese seelenfeindliche Situation bedeutet eine enorme emotionale Belastung für die Menschen.“

Dass die gesellschaftliche und wirtschaftliche Lage einer Gesellschaft das seelische Erleben des Individuums beeinflusst, liegt auf der Hand und wurde mehrmals in der Forschung bestätigt. Die Corona-Krise wäre auch hier keine Ausnahme. Sie hat aber etwas Besonderes an sich, dass der Feind, von dem die Bedrohung kommt, nicht sichtbar und greifbar ist. Trotzdem müssen die Menschen massive Einschränkungen ihres Alltags hinnehmen. Unter anderem Ausgangsbeschränkungen, angeordnete Kontaktverbote, Home-Office, geschlossene Kitas und Schulen, Großeltern dürfen ihre Enkel nicht sehen, Maskenpflicht, nicht ausreisen dürfen.

Die Folgen für viele Menschen sind vielfältig: noch mehr soziale Isolation und Einsamkeit, Menschen sterben alleine und einsam, weit weg von ihren Angehörigen, verlorene und bedrohte Existenzen. Viele Menschen wurden in Kurzarbeit geschickt, wiederum andere verlieren ihren Job. Entstanden ist eine kollektive Macht- und Hilflosigkeit, begleitet von Gefühlen der Wut, Angst und dem des Ausgeliefertseins des Einzelnen. Die gesellschaftliche Machtlosigkeit mündet inzwischen in fehlender Empathie füreinander im Alltag und zu einem Anstieg der Gewaltbereitschaft. Viele Menschen werden mit der Zeit aggressiver und können nicht mehr vernünftig und respektvoll miteinander diskutieren, ohne sich gegenseitig mit bestimmten Schimpfwörtern zu titulieren, was zu einer zusätzlichen Vergiftung der gesellschaftlichen Atmosphäre führt.

Diese seelenfeindliche Situation bedeutet eine enorme emotionale Belastung für die Menschen. Labile Menschen werden dadurch krank und bereits psychisch Kranke noch kränker. Der massive Anstieg der seelischen Störungen ist in meiner Alltagspraxis sehr spürbar. Auch andere Kollegen berichten von einem Anstieg der Anzahl der Menschen, die nach Hilfe suchen. Manche unter ihnen sind schon vorbelastet, und die Krise hat ihre Situation verschärft und bei ihnen einen Rückfall ausgelöst. Anderen wurde durch die Krise ihre finanzielle Grundlage entzogen. Sie haben ihre Existenz oder ihre Arbeitsstelle verloren und wissen nicht, wie es weitergehen kann. Wiederum andere können die Ungewissheit in Bezug auf die Infektionen und ihre Ausbreitung sowie in Bezug auf die wirtschaftlichen und politischen Folgen der getroffenen Maßnahmen nicht mehr aushalten.

Johannes, 56 Jahre alt, arbeitet als Erzieher. Er ist wegen Depression, starkem Übergewicht, pathologischem Horten (Messi-Syndrom) und unterschiedlichen Ängsten in die Therapie gekommen. Johannes hat vor der Krise große Fortschritte in seiner Therapie gemacht. Er hat es geschafft, nach 15 Jahren wieder auf der Autobahn fahren zu können, allein zu reisen, sich ordentlich anzuziehen, das Gewicht langsam zu reduzieren und vor allem die überflüssigen Dinge, die sich zu Hause über Jahrzehnte gesammelt haben, zu entsorgen. Die Fortschritte waren zwar langsam und hart erarbeitet, sie gaben ihm aber Hoffnung, dass er irgendwann ein normales und erfülltes Leben führen kann.

Dann kam die Krise mit allen oben erwähnten Einschränkungen. Die täglichen Horror-Meldungen über Tote und Infizierte und dass er auch zu einer Risiko-Gruppe gehöre (er ist Asthmatiker), haben seiner Stimmung einen Dämpfer gegeben. Johannes vermisst die Kollegen und die Kinder. Er hat keine Tagesstruktur mehr und keinen Bereich, wo er sich, seine Kompetenzen und die Sinnhaftigkeit seines Lebens spüren kann. Seine Situation hat sich wieder verschlechtert. In der Therapie und am Anfang der Corona-Krise ließ sich Johannes motivieren, kreativ mit der Situation umzugehen. Er kam auf die Idee, Spiele selbst zu Hause zu basteln und sie den Kindern nach Hause zu bringen. Die Reaktion der Kinder und der
Eltern war enorm positiv. Dies hat Johannes noch stärker motiviert, für die Kinder mehr zu tun. Das Lob und die Anerkennung der Eltern haben Johannes beflügelt. Beim nächsten Kontakt mit den Arbeitskollegen spürte Johannes eine gewisse Ablehnung. »Die Kollegen sind kurz angebunden, und sie reagieren nicht oder nur verzögert auf meine Fragen«. Auch seine Chefin hat ihn gerügt, weil er die Initiative ergriffen hat, ohne Absprache mit dem ganzen Team und vor allem mit der Chefin. Dies hat Johannes wieder einen Dämpfer gegeben. Dann kamen noch mehr Einschränkungen, und er hat sich immer mehr zurückziehen müssen. Seine Symptome haben sich verstärkt. Er hat den Boden unter den Füßen verloren. Johannes konnte nicht mehr in die Therapie kommen. Er leidet alleine und einsam in seiner Wohnung. Auch die Bekannten und Freunde haben angefangen, sich von ihm zu distanzieren, weil  sie einfach mit der Situation überfordert sind. Es bleibt für mich als Therapeut nur zu hoffen, dass er die Krise heil übersteht, die Psychotherapie demnächst fortsetzen wird und ich ihn bald in meiner Praxis wieder begrüßen darf.