Interview mit Mathias Jung: Nein sagen tut gut

Ein Ja ist bequem: im Job, in der Liebe, im Leben.
Aber nur wer Nein sagt, findet zu sich selbst.
Ein Gespräch mit dem Psychotherapeuten Mathias Jung

Catrin Boldebuck und Markus Grill: Interview, Campus & Karriere, Stern spezial

Campus & Karriere: Warum sagen Menschen lieber ja als nein?

Mathias Jung: Im Ja verbünden wir uns mit anderen Menschen. Im Nein müssen wir Widerstand leisten. Wer Nein sagt, muss es aushalten können, von anderen abgelehnt zu werden. Im Nein liegt also Selbstbehauptung und Abgrenzung.

Stimmt es, dass derjenige leichter Nein sagen kann, der ein klares Bild von sich selbst hat?

Unbedingt. Der ganze Prozess unserer Ich-Werdung läuft darauf hinaus, dass wir aushalten können, anders als die Welt zu sein, und dass die Welt anders ist als wir. Wenn wir das akzeptieren, müssen wir uns nicht mehr anpassen. Sitzen wir nicht mehr auf einem Haufen ungelebten Lebens, sondern bringen uns in Stellung zur Welt. Wir werden nein-fähig.

Warum haben wir dennoch solche Probleme, nein zu sagen. Warum fällt uns das so schwer?

Jeder Mensch macht in seiner seelischen Entwicklung die Abnabelung von seinen Eltern noch einmal durch,
also die Abnabelung von seinem Milieu, von den Werten der Eltern, hin zu einem eigenständigen Ich und einem eigenen Wertekosmos. Das ist ein Prozess, der über Jahre geht. Das Nein ist fast gleichbedeutend mit dieser Identitätsbildung. Mit einem Nein verlieren wir ein Stück Sicherheit, ein Stück Übereinstimmung. Wir verlieren die geliehene Identität. Ein Nein ist auch immer ein Gang in die Einsamkeit, manchmal sogar in die Kälte.

Haben wir deshalb auch Angst, ein Nein von anderen zu hören?

Ein Nein hat etwas Vernichtendes. Deswegen lieben wir es auch, jedes Nein zu verkleiden, es in Zucker zu wälzen. Viele Menschen haben in ihrer Kindheit zu viele Neins gehört. Sie haben als Kind die Erfahrung gemacht, dass sie nicht gut genug waren, nicht so akzeptiert wurden, wie sie waren.
Ein gutes, klares Nein kann nur ausgesprochen werden, wenn ich zuvor ein grundsätzliches ]a erfahren habe.

Wenn Sie die heute 25-Jährigen mit Ihrer Generation vergleichen – welcher fällt das Nein leichter?

Mein Eindruck ist, dass die heutige Generation leichter Nein sagt. Nicht vom Herzen her leichter, aber sie sagt es besser. Meine Generation – ich bin Jahrgang 1941 – war extrem angepasst. Wir stammten aus autoritären Elternhäusern, waren stark infantil, haben erst spät Sexualität erfahren. Wir waren gebunden und ängstlich, auch in der Kommunikation. Noch 1968 haben Studenten zueinander gesagt: »Herr Kommilitone, könnten Sie mir Ihr Skript leihen?« Die heutige Generation ist viel kommunikativer. Sie hat auch viel mehr Wahlmöglichkeiten, übers Internet, durch Auslandskontakte, bessere Sprachkenntnisse. Ich denke, die heutige Generation ist eine optionale Generation. Das macht sie sehr nüchtern und rational, sie analysiert Kosten und Nutzen und handelt dann danach.

Nüchtern und rational ist inzwischen auch die Gesellschaft geworden.

Das führt aber auch dazu, dass Jugendliche auf eine Art ins kalte Wasser geworfen werden, wie es das früher nicht gab. Vor 30 Jahren kamen Sie zum Beispiel als Geisteswissenschaftler auch mit einem Orchideenfach unter. Heute hat sich das komplett verändert. Das ist sicherlich ein Kälteschock, sozusagen der negative Aspekt der Rationalität. Andererseits haben junge Leute heute mehr Möglichkeiten. Meine Generation hat schon studiert, um einen klaren Beruf auszuüben, zum Beispiel Arzt, und das blieb man dann das ganze Leben. Mir ist die Idee, den Beruf im Laufe der Jahre vielleicht mal zu wechseln, gar nicht in den Sinn gekommen.

So groß sind die Möglichkeiten heute gar nicht. Bei Bewerbungsgesprächen bekommt man zu hören: »Entweder Sie nehmen den Job zu unseren Bedingungen, oder draußen stehen zehn andere«. Da kann man schlecht Nein sagen.

Es würde zumindest viel Mut erfordern. Aber ich stelle beim Gros der jungen Leute fest. dass sie heute dennoch sehr flexibel sind. Es gibt natürlich auch Wehleidigkeit und Ängstlichkeit. Aber die meisten gestalten ihre Lage, machen ein Parkstudium, gründen eine Ich-AG, und sie sind vor allem nicht so ehrpusselig. Meine Generation hat noch den ganzen akademischen Fimmel gehabt. Man fragte sich: Was ist unter meiner Würde und was nicht?

Kommen gebildete Menschen besser damit zurecht, keine passenden Jobs angeboten zu bekommen?

Bildung macht ein Stück widerständiger, insofern können gebildete Menschen auch leichter Nein sagen. Sie haben Rückzugsmöglichkeiten, Ressourcen, geistige Räume. Mir war immer klar, wenn ich mal arbeitslos wäre, würde ich mich sprachlich weiterbilden. Ich würde aus der Situation was machen. Ich würde mir einen Stundenplan erstellen für jeden Tag. Wer ungebildet ist, hat weniger Optionen.

Viele jüngere Leute wachsen heute in einem Wohlstand auf, den sie nie wieder missen möchten. Werden sie dadurch nicht abhängig vom Geld und zu ]a-Sagern im Job?

Natürlich sehen junge Leute heute in den Medien das Abbild einer extremen Konsumgesellschaft. Hast du was,
dann bist du was. Es ist eine Gesellschaft, die hohen Lebensstandard vergöttert. Was mich schmerzlich berührt ist, dass es so selten geworden ist, einem Studium um seiner Selbst willen nachzugehen. Dabei wäre das eine Bildung, die mich trägt bis zur Bahre. Darauf könnte man stolz sein. Stattdessen macht man nur noch sein enges BWL-Studium, um möglichst schnell eine Anstellung zu finden und einen BMW anzuschaffen. Bildung ist ein Selbstwert, und dafür bin ich vielleicht auch mal bereit, auf etwas zu verzichten. Dazu gehört die Fähigkeit, auch mal Nein zu sagen und Umwege in seiner Biografie zu akzeptieren.

Die Anforderungen der Wirtschaft sind ganz andere: Demnach soll man jung sein, gut ausgebildet, im Ausland gewesen. Da muss man eigentlich zu allem immer nur ja sagen.

Das Durchlauftempo ist höher geworden. Aber ich kann nur Mut machen, Nein zu sagen. Auch einmal Mut zur Sperrigkeit zu zeigen, zur Sprödigkeit und Mut zur Langsamkeit. Zu sagen: Ich mache einfach noch dieses Studium, obwohl ich dafür später kein Lob vom Chef bekomme, ich mache es für mich. Sich also gegen den Trend stellen.

Der Philosoph Erich Fromm hat mal gesagt: »Um ungehorsam zu sein, muss man den Mut haben allein zu sein.«

Ein schönes Zitat. Man muss erkennen, dass man nicht immer mit den anderen marschieren kann. Gerade auch als Jugendlicher habe ich ein Recht auf meinen Lebensentwurf. Und der geht auch durch Einsamkeit. Sich selbst auszuhalten und sich mal gegen die Welt zu stellen ist eines der Grundprinzipien der Entwicklung. Die Frage muss sich jeder immer wieder beantworten: »Was mache ich aus mir?«

Wenn man seinen ersten richtigen Job annimmt, zieht man oft in eine größere Wohnung, leistet sich ein besseres Auto, kauft die ersten Möbel mal nicht von Ikea. Man wird Stück für Stück abhängigen ohne es zu merken.

Zum ersten Mal richtig zu verdienen, ist eine süße Gefahr. Ich denke, es wäre für viele Berufsanfänger wichtig sich zu sagen: Je weniger ich mich materiell abhängig mache, desto mehr Freiheiten habe ich. Jugendlichen stünde es gut an, sich diesen Moment kühler, innerer Rebellion gegenüber der Welt der Älteren zu bewahren. Es ist Widerstand gegen die Konsumwelt. Nietzsche hat etwas gesagt, das für mich zu einem Leitwort geworden ist: »Wer weniger besitzt, wird weniger besessen.«

Wer kann eigentlich leichter Nein sagen, Männer oder Frauen?

Hm. schwierig. In der Bundesrepublik werden zwei Drittel aller Scheidungen von Frauen eingereicht. Unter Schmerzen fällt es Frauen offenbar leichter, in der Beziehung Nein zu sagen. Sie sagen sich: «Nein‚ das mache ich nicht mehr mit, während du, Mann, alles einfach aussitzt.« Bei Männern ist es anders.
Ihre Identität bildet sich zu 90 Prozent über den Beruf. In dieser Welt können Männer leichter Nein sagen. Eine Frau hat eher eine Fifty-fifty-Identität. Sie weiß: Die Biologie ist ihr Schicksal.
Irgendwann kommen eine Partnerschaft, die Heirat und in der Regel auch die Kinder, Frauen müssen das irgendwie einbauen und ihr Leben wie einen bunten Flickerlteppich gestalten. Deshalb fehlt Frauen oft das stürmische, entschiedene, konsequente Ja im Beruf. Wir Männer sind anders. In meinem ganzen Leben, seit ich Abitur gemacht habe, habe ich keinen Aussetzer gehabt und jeden Tag gearbeitet.

Kann man lernen, gut und konstruktiv Nein zu sagen?

Wir müssen es lernen. Wir müssen erkennen, dass wir an unserem zaghaften Nein, an unserem Jein, quasi ersticken. Aber das ist ein langer Prozess.
Es ist übrigens interessant, dass ältere Menschen viel besser Nein sagen können. Sie sind nicht mehr so erpressbar, wollen nichts mehr erreichen. Karl Marx: »Wir haben nichts zu verlieren als unsere Ketten.« Und was haben wir denn wirklich zu verlieren als unsere Ketten?

Buchtipp: Mathias Jung, Mut zum Ich (emu-Verlag)

Quelle: DER GESUNDHEITSBERATER 12-2004