Anonymer Erfahrungsbericht, der Name ist der Redaktion bekannt
An einem Wochentag Mitte September klingelte mein Handy gegen 15 Uhr, ein anonymer Anruf. Etwas irritiert nahm ich ab, um gleich noch viel irritierter zu sein: Es war die Kita, die mein Kleinkind (2 Jahre alt) besucht und in der ich es gut aufgehoben wähnte. Es habe einen Corona-Fall in der Kita gegeben und alle Kinder müssten sofort abgeholt werden und seien für 14 Tage in Quarantäne.
Quarantäne – was das genau bedeutete, sackte erst so langsam in mein Bewusstsein ein. Es bedeutete, dass mein Kind keinen Fuß mehr vor die Wohnungstür setzen dürfte (kleine Stadtwohnung, aber immerhin mit Balkon) für die Zeit der Quarantäne. Es bedeutete auch das Verbot jeglichen Besuches oder anderer Unterstützungsmöglichkeiten für mich. Immerhin, andere Haushaltsangehörige seien nicht betroffen, so entnahm ich dem Schreiben des Gesundheitsamtes, welches wörtlich schrieb:
„Angehörige oder Kontaktpersonen Ihres Kindes sind von den Quarantänemaßnahmen und Einschränkungen im Alltag und Berufsleben derzeit nicht betroffen, da diese keinen direkten Kontakt zur infizierten Person hatten.“
– Aha, ich durfte also weiterhin die Wohnung verlassen, das Zweitklassgeschwisterkind auch – nur wie sollten wir das anstellen, als Ein-Eltern-Familie?
Stellte sich die Behörde vor, dass ich mein Kleinkind allein zu Hause ließ, während ich einkaufen war oder das Zweitklasskind zur Schule brachte? Oder sollte mein Schulkind ab sofort alle Wege alleine machen? Oder wurde von mir erwartet, dass ich eine Infrastruktur aus dem Hut zauberte, die alle erforderlichen Wege mit meinem Zweitklasskind absolvierte UND auch noch unsere notwendigen Einkäufe vornahm? Und wie könnte für meine Bedürfnisse gesorgt werden, insbesondere für das nach Ruhe, wenn das wenig schlafende Kleinkind zu Hause irgendwann eine Überforderung darstellen würde? Die Empfehlung des Robert Koch-Institutes für Quarantäne-Fälle an Familien lautet lapidar:
„Für Familien mit Kindern kann häusliche Quarantäne eine besondere Herausforderung sein, u. a., wenn es um Unterstützung bei der Versorgung der Kinder geht. Versuchen Sie miteinander so gut es geht in Verbindung zu bleiben.“
(aus dem Flyer „Quarantäne“ des Robert Koch-Institutes).
Schreianfälle, wie ich sie noch nie erlebt habe
Das Zweitklasskind konnte zum Glück erstmal bei den Großeltern untergebracht werden, sodass es nicht miteingesperrt war. Das Kleinkind drehte an TAG 3 der Quarantäne durch. Schreianfälle, wie ich sie noch nie erlebt hatte und viele Versuche, aus der Wohnung zu kommen prägten den Tag. Um 10 Uhr morgens war ich so fix und fertig, dass ich beim Gesundheitsamt anrief und fragte, wie ich mit dieser Situation umgehen solle, den angehängten Flyer und den darin enthaltenen Hinweis empfände ich als Hohn. Die nicht sehr sensible Antwort der Mitarbeiterin dort war, dass ich ja wohl als Mutter in der Lage sein müsste, mein Kleinkind ein paar Stunden zu beschäftigten.
Deutlich mehr Verständnis fand ich bei der Kinderärztin, die sofort sagte, es würde sie überhaupt nicht wundern, dass ein Kleinkind durchdrehen würde, wenn es in der Wohnung bleiben müsste… Eine gute Idee, was ich noch tun könnte, hatte sie nicht. Alle üblichen Strategien für durchdrehende Kleinkinder und ihre Eltern waren ja verboten (rausgehen um die Energie in Bewegung umzusetzen, Pausenzeiten durch Entlastung in der Verantwortung für das Kind durch andere Betreuungspersonen, um zwei wesentliche Elemente zu nennen).
Kinder haben keine Lobby
Das Unverständnis der Gesundheitsamtsmitarbeiterin beschäftigte mich nachhaltig, welche Vorstellung von Kindern prägt unsere Gesellschaft denn NOCH IMMER, wenn davon ausgegangen wird, ein Kind sei in der Lage, 14 Tage ruhig und friedlich zu Hause zu sein, wenn die Eltern das nur richtig machen würden? Ich weiß, dass es auch Kinder gibt, mit denen das keine größere Herausforderung ist, mein Zweitklasskind ist so eines – und es liegt nun wirklich nicht an der tollen Erziehung der Eltern (habe ich beim ersten auch immer gedacht…) sondern ist ein (seltener) Glücksfall für eine solche Situation.
Eltern, die in Quarantäne nicht mit ihren Kindern klarkommen sind nicht unfähig, sondern überfordert mit einer Situation die schon für viele Erwachsene eine echte Herausforderung darstellt und Kinder die mit der Quarantäne nicht klarkommen und ihre Eltern überfordern sind die Norm, die es nicht bis ins breite Bewusstsein der Öffentlichkeit schafft, weil wir leider keine Lobby für Kinder haben – und auch keine für Eltern. Oder genauer gesagt, für Menschen in der Mutterrolle (meistens tatsächlich die Frauen, das zeigte die Pandemie ja auch, denn die Frauen haben weitgehend ausfallende Kinderbetreuung aufgefangen und das Homeschooling übernommen).
Quarantänen, die aufgrund ihrer Anordnung Eltern und Kinder gemeinsam betreffen, sind insbesondere für die Eltern dreifache Herausforderungen: 1. Sie müssen die Kinder irgendwie durchbringen, beschäftigen, versorgen 2. Sie müssen selbst mit der Situation klarkommen, 3. Sie müssen auch noch die Infrastruktur organisieren, die alle versorgt. Das gilt insbesondere und verschärft für alleinlebende Elternteile, die sich nicht mit dem Verlassen der Wohnung abwechseln können. Hier ist vor allem eines angesagt: VERSTÄNDNIS. Sehr viel VERSTÄNDNIS.
Kein Kontakt zu positiv getesteter Erzieherin
Unsere Geschichte nahm allerdings eine unerwartete Wendung: Ich hatte schon beim Abholen in der Kita nachgefragt, wie denn der Kontakt meines Kindes zur positiv getesteten Person war und hielt in der Quarantäne Mailkontakt zur Bezugserzieherin meines Kindes. Und langsam zeigte sich, was eigentlich geschehen war. Unsere Kita ist – wie sehr viele – aufgeteilt in einem prinzipiell offenen Konzept in einen Kindergartenbereich und einen Nestbereich, welcher in der Regel abgetrennt gehalten wird. Die positiv getestete Person befand sich im Kindergartenbereich und mein Kleinkind im Nestbereich hatte keinen Kontakt zu ihr. Und des Weiteren musste ich feststellen, dass das Gesundheitsamt sich nicht die Mühe gemacht hatte, dies zu erheben, sondern argumentierte, das Robert Koch-Institut habe empfohlen, alle in einer Kita in Quarantäne zu schicken (auf der für normale Menschen zugänglichen Seite des Robert Koch-Institutes steht das allerdings etwas anders, explizit ist hier als Beispiel die KitaGRUPPE oder SchulKLASSE genannt (A.d.R.: Dies wurde zwischenzeitlich überarbeitet, das hier Wiedergegebene stand dort im September 2020)).
Bereits an TAG 3 am Telefon hatte ich die Mitarbeiterin des Gesundheitsamts darauf hingewiesen, dass meines Wissens nach kein Kontakt stattgefunden habe, der nach den Kriterien des Robert Koch-Instituts eine Quarantäne rechtfertigen würde. Es dauerte noch bis Tag 8 der Quarantäne und benötigte noch einigen Widerstand und dann wurde die Quarantäne aufgehoben. Sein Vorgehen hielt das Gesundheitsamt weiterhin für vollkommen korrekt, die Aufhebung wäre nur erfolgt, weil nachträglich neue Erkenntnisse dazu gekommen seien.
Ich weiß nun genau, welche Kriterien das Robert Koch-Institut an die Einordnung der Kontaktpersonen stellt, da ich mir das alles sehr genau durchgelesen habe und damit die pauschale Einordnung des Gesundheitsamtes widerlegen konnte.
Ein freiheitsfeindlicher Kurs
Zwischenzeitlich ist mir bekannt geworden, dass ein solches Vorgehen immer wieder zu beobachten ist, und damit meine ich nicht das für mich zuständige Gesundheitsamt (alleine). Den Gesundheitsämtern ist wohl zugute zu halten, dass sie von der Masse an zu bewertenden Fällen überfordert sind. Warum dann aber gerade da, wo kleine Kinder betroffen sind, nicht gründlicher nachgeforscht wird und ggf. andere zurückgestellt werden, ist für mich nicht nachvollziehbar, wenngleich leider erklärbar. Weder Kinder noch Care-Arbeit haben in unserer Gesellschaft einen angemessenen Stellenwert. Häusliche Quarantäne für Kinder trifft, wie schon der Lockdown, fast immer die Mütter – und auch deren Lobby ist, das haben wir in den vergangenen Monaten gesehen, ziemlich klein.
Insbesondere finde ich es erschütternd, dass zu Unrecht genommene Freiheit nur mit massivem Widerstand zurückerlangt wird (und damit habe ich jetzt nicht die Frage gemeint, ob die Quarantänen an sich verhältnismäßig sind, sondern nur die, ob sich das jeweilige Gesundheitsamt korrekt verhielt, insbesondere die Kriterien des Robert Koch-Instituts richtig anwandte). Es gibt zunehmend Rechtsprechung, die Freiheiten wieder zurückgibt, nicht nur bei Quarantänen. Noch sind es meines Wissens nach vor allem Einzelfälle in einstweiligen Rechtsschutzverfahren und leider offensichtlich dringend notwendige Korrekturen in einem ansonsten eher freiheitsfeindlichen Kurs.
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A.d.R.: Inzwischen sind auch schon Gerichtsentscheidungen zu diesem Thema bekannt. Auf der Internetseite der Rechtsanwältin Jessica Hamed finden Sie beispielsweise einen Beschluss eines Verwaltungsgerichtes über den Fall einer Erzieherin, die erfolgreich gegen die Anordnung einer Quarantäne vorgegangen ist.