Medikamente als Mahlzeit

Functional Food: Wie mit Chemie unsere Ernährung manipuliert wird.

Verbraucher kaufen »Bio«. Essen soll gut aussehen, gut schmecken und gesund sein. Doch diese Wünsche kennt auch die Nahrungsmittelindustrie und reagiert seit Jahren entsprechend. Durch geschickte Werbung macht sie Millionen Käufer glauben, dass bestimmte Produkte besonders gesund sind. Da werden Vitamine zugesetzt, Phytosterine, Omega-3-Fettsäuren, Jod sowie alles das, was deren High-Tech-Hexenküchen im Labor austüfteln. Hauptsache, der Kunde beißt an und glaubt, mit diesem Produkt das Richtige für seine Gesundheit zu tun. Die Grenze zwischen »normalem« Essen und Essen als Medikamententräger ist schon längst überschritten.

Was sagte meine 80-jährige Tante Dora vor 30 Jahren, als sie die vergleichsweise harmlose Fernsehwerbung für SB-Margarine und Thomapyrin-Schmerztabletten sah (und die Produkte verzehrte): »Das dürften die ja gar nicht so sagen, wenn das nicht gesund wäre«. Auf diese vertrauensselige Gutgläubigkeit bauen die Werbestrategen.

Die Firma Kampffmeyer Food Innovation in Hamburg-Wilhelmsburg will mit maßgeschneiderten Getreideprodukten neue Märkte erschließen. »Mit unseren Spezialmehlen und Rezepturen sind wir bei fast jedem zweiten der 15 000 deutschen Bäcker präsent.«

Ein Verkaufsschlager von Kampffmeyer ist »Ping-Pong«, ein Trennmehl für Großbackstuben. »Selbst bei hoher Luftfeuchtigkeit kleben Brötchen auf dem Laufband zum Ofen nicht fest. Zudem staubt Ping-Pong kaum und dämmt so die Berufskrankheit Asthma ein.« Übrigens wurde Bäcker-Asthma erst mit der Großproduktion von Auszugsmehlen ein Thema. Bei der normalen nichtindustriellen Vermahlung von Vollkornmehl war diese Krankheit dem Berufsstand unbekannt.

Andere »Spezialmehle« bei Kampffmeyer sind keimfrei, schimmeln nicht oder halten Kürbiskerne auf »natürliche Art« auf den Brötchen fest.

In Kampffmeyers Labor isolieren Forscher verschiedene Schichten des Getreidekorns, um bestimmte Wirkstoffe herauszufiltern. Man ist gerade dabei, ein weißes Vollkornmehl zu entwickeln, das wegen seiner hellen Farbe vor allem von Kindern lieber gegessen wird als dunkles Brot und als besonders gesund gilt. (Quelle: Hamburger Abendblatt, 26. 7. 2011).

Bericht in der WELT AM SONNTAG

Die Verfasserin des Artikels vom 17. 7. 2011 ist Anette Dowideit. Sie nimmt in einem fünf Seiten umfassenden Bericht die als gesund beworbenen Nahrungsmittel und deren Hersteller aufs Korn. Sie nennt Ross und Reiter. Das Fazit nehme ich vorweg: Probiotische Joghurts, cholesterinsenkende Margarinen, Brot mit Omega-3-Fettsäuren. Tatsächlich hält Functional Food aber nur selten, was es verspricht. Mehr noch: Manch ein Produkt könnte schädlich sein.

Anette Dowideit: »Allein für cholesterinsenkende Lebensmittel blättern deutsche Kunden an den Supermarktkassen pro Jahr rund 60 Millionen Euro hin, für probiotische Joghurts sogar 550 Millionen.«

Cholesterin ist also immer noch ein Dauerbrenner. Die wahren Ursachen des gefürchteten Herzinfarkts nennt die so genannte Wissenschaft nicht. Man stürzt sich auf den vermeintlichen Bösewicht Cholesterin. Dowideit: »Der fettähnliche Stoff … gilt bei zu hohen Werten als Auslöser von Herz-Kreislauf-Krankheiten und Krebs. Ihn unter Kontrolle zu halten, ist das weltweit größte Geschäft der Pharmakonzerne. Der Industrie beschert der Verkauf der Cholesterinsenker fast 30 Milliarden Euro Umsatz pro Jahr.«

Der französische Konzern Danone rechnet allein bei seinem neuen cholesterinsenkenden Joghurt »Danocol« in Deutschland mit 80 – 100 Millionen Euro Umsatz in den nächsten drei bis fünf Jahren.

Ob Danone, Nestlé, Unilever oder andere Konzerne. Alle grasen das Thema »Gesundheit« ab. Dowideit: »Das Konzept funktioniert meistens gut. So gut, dass Danone sich ein Forschungszentrum mit sechshundert Mitarbeitern leisten kann. Und Konkurrent Nestlé aus der Schweiz im Herbst (2010 – d. Red.) ankündigte, eine neue Industrie an der Schwelle zwischen Ernährungs- und Pharmabranche anführen zu wollen – mit seiner neu gegründeten Sparte Health Science, aus der künftig Wundernahrung gegen Diabetes, Fettleibigkeit und sogar Alzheimer kommen soll.«

Bei diesem weltweit gestreuten Multi-Werbeeinsatz der Konzerne werden kritische Stimmen gern überhört, nicht ernst genommen und/oder als unwissenschaftlich abgetan. Fütterungsversuche an Tieren stellt man in Frage, weil sie angeblich nicht auf den Menschen übertragen werden können. Dabei hat man alle Erkenntnisse über Stoffwechselabläufe ursprünglich an Säugetieren gewonnen.

Mutige Forschung

Der jüngst verstorbene Biochemiker und Arzt Prof. Dr. Roland Scholz befasste sich unter anderem intensiv mit dem Thema Cholesterin (siehe Nachruf Seite 5). Nach Cholesterinsenkern befragt, sagte er mir: »Willst Du dieses Rattengift etwa fressen?« Nein, wollte ich natürlich nicht. Als ich mich von Stresszeiten in einer Kurklinik erholte, war dem behandelnden Arzt mein Cholesterinspiegel von 120 immer noch zu hoch. Er riet mir dringend zur Einnahme von Cholesterinsenkern und den Verzehr von »becel«-Margarine. Er legte sich dermaßen ins Zeug, als wolle er Patienten für eine Studie der Pharmaindustrie gewinnen.

In Homburg an der Saar fand Anette Dowideit ein Forscherteam am Universitätsklinikum des Saarlandes: Vielleicht, so Prof. Ulrich Laufs, der die Untersuchung leitete, habe die geringe Fallzahl kritischer Forschungsprojekte ja auch damit zu tun, dass man solche Ergebnisse nur schwer veröffentlichen könne. Und weiter: »Die wissenschaftlichen Magazine, in denen Fachartikel über Ernährung veröffentlicht werden, sind natürlich auch von den Lebensmittelherstellern als wichtigen Werbekunden abhängig.« Und bei wissenschaftlichen Kongressen träten die Nahrungsmittelkonzerne häufig als Mitveranstalter auf.

Kurz gesagt: die Homburger Studie wurde 2008 veröffentlicht. Bei den Mäusen, die im Fütterungsversuch mit Phytosterinen – den hochgelobten Cholesterinsenkern! – angereichertes Futter erhielten, lagerten sich diese Sterine in den Geweben ab. Dowideit: »Im Vergleich mit einer Kontrollgruppe, die ein cholesterinsenkendes Medikament gefüttert bekam, wiesen die Mäuse die Functional Food verspeist hatten, anschließend noch doppelt soviel Gefäßverkalkung auf.« Der Forscher Laufs: »Es gibt keine Hinweise auf eine deutliche Wirksamkeit solcher funktioneller Lebensmittel, dafür aber Hinweise auf eine möglicherweise nachteilige gesundheitliche Wirkung.«

Warnungen werden überstimmt

Obwohl das Bundesinstitut für Risikobewertung vor dem Verzehr von Nahrungsmitteln mit zugesetzten Pflanzensterinen ausdrücklich warnte, sind in der EU solche Produkte zugelassen. Anette Dowideit nennt cholesterinsenkende gelbe Streichfette, milchartige, käseartige und joghurtähnliche Erzeugnisse, Salatdressings und Mayonnaise, Reisund Sojadrinks.

Dowideit: »Im Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit (BVL) heißt es, bei den Beratungen auf EU-Ebene hätten deutsche Lebensmittelexperten ihre Bedenken deutlich formuliert, seien jedoch überstimmt worden.«

Übrigens bemühen sich weitere Konzerne um die Zulassung cholesterinsenkender Säfte, Nektare, Wurstwaren. Dowideit: »In 100 Gramm Bockwurst stecken 65 Milligramm Cholesterin. Um das Cholesterin beim Verzehr zu senken, müsste eine weit höhere Menge an Phytosterinen zugesetzt werden.«

Und wer lässt derart fragwürdige und gesundheitlich nicht unbedenkliche Produkte zu? Die 2003 gegründete EFSA (European Food Safety Authority). Sie sitzt in Parma, Italien, und ist »eine umstrittene Behörde«. Im Aufsichtsgremium sitzen, so Dowideit, vier Industrievertreter. »Einer von ihnen ist Matthias Horst, seit über dreißig Jahren in der Branche tätig und Hauptgeschäftsführer der Bundesvereinigung der deutschen Ernährungsindustrie.«

Liebe Leser, so viel in Kürze. Lassen Sie sich nicht von Nahrungsmittelkonzernen und Zusatzstoffen/Medikamenten in deren Produkten behandeln, sondern leben Sie gesund. Prof. Werner Kollath (1892 – 1970) sagte. »Lasst die Nahrung so natürlich wie möglich.« Dr. M. O. Bruker empfahl über Jahrzehnte: »Essen Sie wie ein Bauer vor hundert Jahren.« Damit meinten beide, dass die Ernteerträge der Landwirtschaft direkt – ohne Umwege über die »veredelnde Industrie« – gegessen werden sollten. Die Durchführung dieser schlichten Empfehlungen wird immer schwieriger. Das Schlucken von Präparaten und Imitaten, wie oben angegeben, ist einfacher. Aber wir lassen nicht locker mit der Aufklärung. Wenn der Verbraucher weiß, was er in den Regalen der Supermärkte und anderen Läden liegen lassen sollte, spüren die Konzerne, woher der Wind weht. Er sollte sich zu einem Sturm entwickeln!

Dank an Ulrike Schürmann für die Übersendung des Welt-am-Sonntag-Artikels.