Tinnitus

Frage:
Seit 3 Jahren leide ich unter einem quälenden Ohrgeräusch.
Ich habe viele Ärzte und Therapeuten aufgesucht – ohne dauerhaften Erfolg. Ich bin verzweifelt und habe kaum noch Hoffnung auf Besserung. Haben Sie noch einen Tipp?

Antwort:
Viele Menschen (schätzungsweise über 10 % der Bevölkerung) leiden mehr oder weniger unter Ohrgeräuschen. Das Wort Tinnitus kommt aus dem Lateinischen »tinnire« und bedeutet »klingeln, klimpern«. Die lästigen Ohrgeräusche werden als Pfeifen, Klingeln, Zirpen, Dröhnen, Klopfen, Rauschen oder Summen wahrgenommen. Jeder Patient schildert sein »eigenes« Ohrgeräusch. Unzählige Ratgeber füllen die Regale der Buchhändler. Zu den Autoren gehören Fachspezialisten und betroffene Laien. Für die einen liegt die Lösung darin, den Tinnitus einfach zu vergessen, andere versprechen mit ihren Methoden endlich Ruhe im Ohr.
Zum besseren Verständnis lohnt sich ein Blick auf den Bau und die Funktion des Hörorgans. Die Ohrmuschel, der Gehörgang und das Trommelfell gehören zum äußeren Ohr.
Das Mittelohr besteht aus Paukenhöhle, Gehörknöchelchen und Ohrtrompete. Im Innenohr befinden sich die Schnecke (Hörorgan) und die Bogengänge (Gleichgewichtsorgan).
Dieses faszinierende Labyrinth aus flüssigkeitsgefüllten Gängen liegt in der Tiefe des Felsenbeins (Pars petrosa ossis temporalis). Jesus meinte Petrus als er sagte: »Auf diesen Felsen werde ich meine Kirche bauen«.
Wir müssen zwischen Schallaufnahme, Schallleitung und Schallverarbeitung unterscheiden. Hören tun wir streng genommen nicht mit den Ohren, sondern mit dem Gehirn (Hörrinde). Auch die Augen sehen nicht im eigentlichen Sinne, sondern unser Gehirn (Sehrinde). Jedes Innenohr ist mit beiden Hirnhälften verbunden.
Die primäre Hörrinde liegt im Schläfenlappen. Der Hörnerv überträgt die Signale von den inneren Haarzellen der Schnecke ins Zentralnervensystem. Das auditorische Signal wird mit den im Gedächtnis gespeicherten Erfahrungen verglichen. Dabei wird Unwichtiges weggefiltert, während Neues und Signifikantes bewusst wird. Filterung bedeutet, dass der überwiegende Teil der in das auditorische System einlaufenden Signale die Bewusstseinsebene nicht erreicht, sondern vorher weggefiltert wird. Dadurch wird eine Überschwemmung der Bewusstseinsebene mit Unwichtigem vermieden.
Außerdem ist es wichtig zu verstehen, dass ein akustischer Reiz (Stimulus) eine spezifische Antwort (Reaktion) erzeugt.
Typische Antworten sind Aufmerksamkeitsfokussierung, Zuwendung oder Flucht und die Entwicklung von Gedanken und Handlungen (z. B. Bewältigungsstrategien).
Ich erinnere mich an eine ältere Patientin, die jedes Mal samstags um 12 Uhr mittags zusammenzuckte, wenn die Sirenen zum Probealarm heulten. Die Kriegserlebnisse aus ihrer Kindheit wurden wieder lebendig. Wenn die Sirenen heulten, musste sie mit den Eltern schnell in den Keller rennen.
Sie rannte um ihr Leben!
Vom Hören kommen wir zum Horchen, vom Horchen zum Gehorchen, vom Gehorchen zum Gehorsam. Wie viele Menschen unterliegen aufgrund einer rigiden, gefühlskargen, genormten Sozialisation einem »falschen Gehorsam«? Alle kennen die umgangssprachlichen Floskeln: »jemanden zurückpfeifen« …, »jemandem den Marsch blasen« oder »die Glocken läuten zum Sturm«.
Die medizinische Terminologie und Nomenklatur ist einfach zu verstehen. Definitionsgemäß versteht man unter Tinnitus die Wahrnehmung von Geräuschen ohne zugrundeliegende exogene akustische Information. Man unterscheidet subjektiven, nur vom Patienten wahrnehmbaren, und objektiven, auch vom Untersucher nachvollziehbaren Tinnitus.
Weiterhin unterscheidet man akuten (Dauer: Minuten, Stunden, Tage, Wochen) von chronischem Tinnitus (Dauer: länger als 3 Monate). Die Ohrgeräusche können intermittierend
(unterbrochen, gelegentlich) oder kontinuierlich (dauerhaft) auftreten. Von enormer Bedeutung ist die Mitteilung an die Betroffenen, dass chronischer Tinnitus nicht bedeutet, dass er »für immer« da sein muss. Manche Forscher nehmen an, dass eine Hörminderung eine unabdingbare Voraussetzung für die Entstehung des Tinnitus ist. (Folge von Hörsturz, Lärm­ oder Knalltrauma). Das Gehirn versucht quasi die fehlende Frequenz, durch die Tinnitusfrequenz zu kompensieren. Frühere Versuche, einen einseitigen, lästigen Tinnitus mittels operativer Durchtrennung des Hörnervs zu beseitigen, blieben erfolglos. Das Gehör war weg – der Tinnitus blieb. Eine andere Hypothese besagt, dass der Tinnitus die Folge einer gestörten Filterung ist. Gefühle (Limbisches System) und Stress (vegetatives System) beeinflussen den Hörfilter. Das Ohrgeräusch bedeutet für viele Betroffene zunächst Stress. Es macht Angst und erzeugt Wut. So kann der Tinnitus durch belastende Lebensereignisse dekompensieren.
Obwohl organische Prozesse und Läsionen selten Auslöser eines subjektiven Tinnitus sind, sollte eine ärztliche Basisdiagnostik nicht unterbleiben.
Kneippanwendungen, Saunieren, Entspannungsverfahren, Vollwertkost, Gesprächstherapie, Osteopathie und Neuraltherapie sind einige der unterstützenden, hilfreichen Behandlungsmöglichkeiten.
Auch die Akupunktur oder ein geeignetes Homöopathikum tun gute Dienste. Der »Tinnitus­Patient« ist aufgefordert, auf seine innere Stimme zu horchen. Er darf lernen, den »unerhörten Ton« wahrzunehmen und selbstbewusst zu äußern.

Literatur:
Physiologie des Menschen, Springer Verlag, 29. Auflage
Der Allgemeinarzt, Journal 7/2024