Simone (48 Jahre, Name geändert) berichtet, dass sie seit 2004 unter Depressionen leidet. Der Auslöser sind Probleme am Arbeitsplatz. Sie wurde von bestimmten Arbeitskollegen ständig »gemobbt« und beleidigt. Sobald sie an die Arbeit denkt, bekommt sie Panikattacken, Schweißausbrüche, Zittern und Herzrasen. Sie muss sich übergeben. Dadurch sind ihre Magenbeschwerden immer schlimmer geworden.
Normalerweise ist sie eine aktive, fleißige Frau, aber in der letzten Zeit ist sie träge geworden, ständig müde und niedergeschlagen. Sie ist lustlos und kraftlos und muss sich zwingen, um aus dem Bett raus zu kommen. Trotz starker Müdigkeit tagsüber kann sie in der Nacht nicht schlafen. Die ganze Zeit liegt sie im Bett und grübelt über alles Mögliche nach. Sie versucht, dieses Gedankenkreisen zu stoppen, aber bis jetzt ohne Erfolg. Das Lesen, das ihr immer Spaß gemacht hat, gestaltet sich momentan sehr schwierig, weil sie sich nicht mehr konzentrieren kann. Sie ist vergesslich geworden, so dass sie ohne eine »To-do-Liste«, sowohl bei der Arbeit als auch zu Hause, nicht mehr zurecht kommt. Sie fühlt sich minderwertig, wertlos und ständig überfordert. Unter Stresssituation bekommt sie »Fressattacken«, die zu Gewichtszunahme führen und die Unzufriedenheit mit dem eigenen Körper stärken. Weiterhin berichtet Simone, dass sie schreckhaft ist und dass immer wieder Bilder von Gewalterfahrungen in der Kindheit in ihrem Kopf auftauchen. Bis jetzt hat sie über diese Gewalterfahrungen mit niemandem reden können. Sie hat auch vor 2004 bereits mehrere Phasen der Depression erlebt, aber dieses Mal treten die Symptome intensiver auf.
Was verstehen wir unter Depression?
Der Begriff »Depression« wird umgangssprachlich häufig angewendet, um normale Gemütsreaktionen wie zum Beispiel Verstimmungen, Traurigkeit oder Niedergeschlagenheit auf emotional belastende, negative Ereignisse zu beschreiben. Im klinischen und psychotherapeutischen Bereich kennzeichnet der Begriff Depression jedoch eine psychische Störung und ein pathologisches Erleben, welches das normale psychische Funktionieren eines Menschen zum Erliegen bringen und für die Betroffenen lebensbedrohlich sein kann. Eine akute Depression umfasst einen Komplex von psychischen und physischen Symptomen, die sich auf unterschiedlichen Ebenen manifestieren.
Auf der Gefühlsebene:
- anhaltende Traurigkeit, so dass die Betroffenen häufig Weinkrämpfe bekommen
- Hilflosigkeit, Wut und Ärger über sich selbst und die Anderen
- hartnäckige Schuldgefühle, die unbegründet sind.
Manche Betroffenen beschreiben sogar das subjektive Empfinden, keine Gefühle mehr zu haben. In der subjektiven Welt der Depressiven gibt es immer dasselbe, alles ist entsetzlich und furchtbar. In ihrem Leben scheint die Zeit stehen geblieben zu sein, in der Vergangenheit, der Gegenwart, ebenso wie in der Zukunft ist immer alles schrecklich.
Auf gedanklicher Ebene:
Depressive Menschen klagen meistens über Vergesslichkeit und Konzentrationsstörungen. Sie grübeln über alles Mögliche nach und leiden unter Gedankenkreisen oder Gedankenzwang. Sie entwickeln ein Schwarz-Weiß-Denkschema, das zu negativen Schlussfolgerungen über sich selbst und ihre Umwelt verleitet. Logische Argumentationen oder gut begründete Ratschläge sind nicht in der Lage, die selbstabwertenden Gedanken oder die negative Weltsicht zu beeinflussen. Zusätzlich tauchen nicht selten Suizidgedanken auf, die in vielen Fällen auch tatsächlich zu Suizidversuchen führen.
Auf motivationaler Ebene:
Der depressive Mensch würde am liebsten den ganzen Tag im Bett verbringen. Er muss sich überwinden, um überhaupt aufzustehen. Aktivitäten, die ihm früher Spaß gemacht haben, kosten ihn immer mehr Mühe und Kraft. Im Haushalt bleiben Sachen einfach liegen, Rechnungen werden nicht/oder nicht rechtzeitig beglichen. Die Betroffenen neigen dazu, alles »auf den letzten Drücker« und nur unter erheblichem Zeitdruck zu machen, so dass sie sich selbst in Stresssituationen hineinmanövrieren.
Auf der Verhaltensebene:
Depressive Menschen sind lethargisch. Die meiste Zeit des Tages fühlen sie sich müde, niedergeschlagen und kraftlos, was häufig dazu führt, dass sie ihren Alltag nicht bewältigen können. Sie sitzen nur vor dem Fernseher, vor dem PC oder liegen im Bett oder auf dem Sofa. Sie sind im Allgemeinen passiv und anklagend, weinerlich.
Auf interpersonaler Ebene:
Depressive Menschen ziehen sich aus dem sozialen Leben zurück. Sie leben isoliert von anderen, distanziert in ihren zwischenmenschlichen Beziehungen. Sie reagieren auf Kontaktwünsche ihrer Freunde oder Bekannten nicht mehr oder nur selten. Sie fühlen sich wertlos und anderen unterlegen. Häufig erwecken sie bei anderen den Eindruck, dass sie gefühlskalt, arrogant und abwertend sind. Sie sind Gefangene ihrer eigenen düsteren Welt, die durch die äußere Welt wenig beeinflussbar ist. Sie sind wenig fähig, Empathie mit anderen zu empfinden, gleichzeitig reagieren sie sensibel auf Ablehnung und Zurückweisung.
Auf physiologischer Ebene:
Depression ist meistens begleitet von Ein- und Durchschlafstörungen, innerer Unruhe, anhaltender Anspannung, Wetterfühligkeit, Appetitänderung, geringem sexuellem Verlangen und Verschiebungen unter anderem im Neurotransmitter- und Hormonhaushalt.
Formen der Depression
Um von einer akuten Depression sprechen zu können, muss eine Anzahl von Symptomen vorhanden sein, die über einen gewissen Zeitraum andauern und nicht durch andere Erkrankungen erklärbar sind.
Der Verlauf, die Schwere der Symptome (leicht, mittelschwer, schwer) und die Intensität (zum Beispiel mit oder ohne psychotische Merkmale) wird herangezogen, um verschiedene Unterkategorien der Depression zu unterscheiden. Früher unterschied man zwischen »endogenen« Depressionen, die aufgrund von genetischen Faktoren und durch Verschiebungen von Botenstoffen im Gehirn ohne erkennbaren Auslöser auftreten und »reaktiven« Depressionen, die durch belastende Lebensereignisse (etwa Verlust einer geliebten Person oder des Arbeitsplatzes) ausgelöst werden.
Depressionen werden in Diagnosesystemen den »affektiven Störungen« zugeordnet. Innerhalb dieser Kategorie unterscheidet man zwischen unipolaren (depressive Episode oder sich wiederholende depressive Episoden) und bipolaren (manisch-depressive Störungen) affektiven Störungen.
Bei den bipolaren affektiven Störungen treten abwechselnd Phasen der Depression und der Manie (oder Hypomanie) auf. Der Patient erlebt ein Wechselbad der Gefühle zwischen Phasen der Lethargie und Niedergeschlagenheit und Phasen der gehobenen Stimmung bis hin zur Euphorie, was sich unter anderem durch einen Taten- und Rededrang ausdrücken kann.
Dagmar (37 Jahre, Name geändert) kam in die Therapie wegen depressiven Symptomen. Auf meine Nachfrage, ob sie schon einmal das extreme Gegenteil der depressiven Symptome erlebt hat, antwortete sie: »Ja, ich habe eine Phase erlebt, wo ich die ganze Zeit fröhlich war. Ich habe sehr wenig geschlafen und Tag und Nacht gearbeitet. Ich habe unheimlich viele kreative Ideen gehabt und habe mich einfach großartig gefühlt. Bis spät in der Nacht habe ich Brot und Kuchen gebacken (sie lebt alleine), unendliche Telefonate geführt, viele Einkäufe im Internet getätigt. Ich habe Dinge gekauft, die ich nie in meinem Leben brauchen werde. Als diese Phase vorbei war, habe ich festgestellt, dass ich alle meine Ersparnisse ausgegeben und zusätzlich 30 000 € Schulden gemacht hatte«.
Bei den unipolaren affektiven Störungen unterscheiden wir zwischen lang anhaltender depressiver Symptomatik, die die Kriterien einer depressiven Episode nicht erfüllen, aber mindestens 2 Jahre lang andauern (Dysthymie) und einer einmaligen depressiven Episode, die entweder leicht, mittelgradig oder schwer sein kann.
Beim Wiederauftreten einer zweiten depressiven Episode oder mehr spricht man von einer rezidivierenden (sich wiederholenden) depressiven Störung. Eine depressive Episode dauert etwa 4 – 6 Monate. Danach bessern sich die Symptome (Remission). Bei bis zu 90 % der Betroffenen, die ihre erste depressive Episode im Alter von 20 – 25 Jahren erlebt haben, kommt es im Laufe der Zeit erneut zu einer depressiven Episode (Rezidiv). Je früher die erste depressive Episode erlebt wird, desto wahrscheinlicher ist, dass die Depression chronisch wird.
Es wird zusätzlich von saisonaler Depression gesprochen, wenn sie bei bestimmten Betroffenen nur in bestimmten Jahreszeiten auftritt. Diese Art der Depressionen beginnen meistens in den Winter- oder Herbstmonaten. Es ist naheliegend, dass diese dunklen Monate nur bei Personen, die eine gewisse Neigung zur Depression haben, zu Depressionen führen. Es kommt auch vor, dass Menschen, die gewöhnlich nur in diesen Monaten Depressionen erleben, aus unterschiedlichen Gründen plötzlich Depressionen auch in der Sommerzeit entwickeln.
Weiterhin spricht man von Schwangerschafts- oder Wochenbettdepressionen: Solche Depressionen treten, wie der Name sagt, während der Schwangerschaft und/oder nach der Entbindung auf. Sie hängen mit den emotionalen und körperlichen Anpassungen an die neue Situation zusammen. Die Wahrscheinlichkeit, während der Schwangerschaft oder nach der Entbindung an Depressionen zu erkranken, ist nicht von der Schwangerschaft oder der Entbindung abhängig, sondern davon, ob familiäre Spannungen, Ängste oder Paarprobleme vorliegen, oder ob die betroffene Frau schon vor der Schwangerschaft eine depressive Phase erlebt hat und zu Gefühlen der Überforderung neigt.
Ursachen der Depression:
Es ist davon auszugehen, dass die Depression ein multifaktorielles Geschehen darstellt. Sie ist das Resultat eines komplexen Zusammenwirkens genetischer, psychosozialer und entwicklungspsychologischer Faktoren einerseits und ungesunder Lebensführung andererseits. Die genauen Ursachen der Störung sind bis jetzt noch nicht bekannt. Anhand von zahlreichen Untersuchungen wurde aber bestätigt, dass depressive Menschen häufig in ihrer Kindheit Situationen erlebt haben, die sie emotional überfordert haben. Dabei kann es sich um Erfahrungen von Trennungen, Verlust, körperlicher und emotionaler Vernachlässigung bis hin zu körperlicher und sexueller Gewalt handeln. Die meisten depressiven Menschen haben in ihrer Kindheit traumatische Erfahrungen erlebt und waren langanhaltenden widrigen Umständen ausgesetzt. Ihr Umfeld hat ihnen keine »normale« Entwicklung und Entfaltung erlaubt. Ein großer Teil ihrer Energie musste darauf verwendet werden, zu »überleben«, und deshalb standen weniger Kapazitäten für die Reifung und Entfaltung zur Verfügung. Beispielsweise sind von vielen depressiven Patienten emotionale Bindungen in der Kindheit als verletzend erlebt worden. Die Selbstöffnung gegenüber Bezugspersonen führte zu Zurückweisung, Bestrafung, Misshandlung oder Missbrauch. Jedes Mal, wenn sie sich dagegen auflehnten, haben sie noch mehr Gewalt oder Ablehnung erlebt. Sie fühlten sich als Kinder nie sicher. Sie befürchteten immer die nächste Bestrafung/Zurückweisung durch die Bezugsperson und zogen sich deshalb bewusst zurück, um zu »überleben«. Sie haben dadurch gelernt, dass ihr »Überleben« davon abhängt, andere auf Distanz zu halten.
Diese »Überlebensstrategien« entwickeln sich mit der Zeit zu rigiden, zum größten Teil unbewussten Grundüberzeugungen, die ihr Verhalten auch im Erwachsenenalter bestimmen. Deshalb kann zwischenmenschliche Nähe im Erwachsenenalter Unbehagen oder sogar Angst auslösen. Im Grunde genommen kann jede Situation, die von diesen Menschen ein Verhalten verlangt, das ihren Grundüberzeugungen widerspricht, die Ängste der Kindheit wieder aktivieren.
Simone berichtete: »Meine Kindheit war von Angst und Brutalität geprägt. Der Vater war ein herrschsüchtiger Mensch. Er hat mich und meine Geschwister häufig geschlagen. Meine Mutter war
überfordert und konnte sich selbst und uns Kinder vor dem unberechenbaren Vater nicht schützen. Meine Versuche, mich zu wehren, wurden vom Vater gnadenlos ausgenutzt, um mich härter und brutaler zu bestrafen. Er hat meinen Willen für die Ewigkeit gebrochen. Im Alter von 7 Jahren wurde ich vom Bruder meiner Schulfreundin vergewaltigt. Es war ausgeschlossen, mit jemandem in der Familie darüber zu reden«.
Verbreitung der Depression
Depressionen sind die dritthäufigsten psychischen Störungen nach Alkohol- und Angststörungen. In den letzten Jahren hat die Anzahl der Betroffenen stark zugenommen, so dass wir von einer Volkskrankheit sprechen können. Auch sind immer jüngere Menschen davon betroffen. Die Daten der deutschen Rentenversicherung bestätigen, dass die Anzahl der Frühverrentungen aufgrund einer Depression stetig ansteigt. Die Kosten für die Behandlung von Depressionen beliefen sich im Jahre 2008 auf 5,2 Milliarden Euro.
Depressive Störungen sind die am häufigsten festgestellten psychischen Störungen in hausärztlichen Praxen. Circa 11 % der Bevölkerung im Alter zwischen 18 und 65 Jahren erkranken jährlich an Depressionen. Dies bedeutet, dass 5 – 6 Millionen Menschen in dieser Altersgruppe im letzten Jahr an Depression erkrankt waren. Ungefähr 50 % der Depressiven begehen im Laufe ihres Lebens einen Suizidversuch, etwa 15 % der schweren depressiven Erkrankungen enden mit einem tödlichen Suizid. Die Anzahl derjenigen, die im Laufe ihres Lebens irgendwann an einer Depression erkranken, beträgt etwa 19 %.
Für diese statistischen Erhebungen werden nur voll ausgeprägte Fälle der Depression herangezogen, Betroffene im Jugendalter und im hohen Alter werden bei den genannten Zahlen ebenfalls nicht berücksichtigt. Deshalb ist davon auszugehen, dass die tatsächliche Anzahl der Betroffenen höher ist. Menschen mit niedrigem sozialen Status sind häufiger betroffen als Menschen mit mittlerem oder hohem sozialen Status.
Annähernd 70 % der Depressiven leiden an einer weiteren psychischen Störung und körperlichen Erkrankung. Mehrere Untersuchungen bestätigen den Zusammenhang zwischen Depression und höherer Sterblichkeitsrate nach einem Schlaganfall oder Herzinfarkt. Hier ist davon auszugehen, dass die hohe Sterblichkeitsrate nicht depressionsbedingt ist, sondern die gesamte Lebensführung einschließlich Ernährung und mangelnder Bewegung die Ursachen sind.