Wenn die Angst unser Leben zur einsamen Hölle macht

Die meisten Menschen sind darauf bedacht, bei den anderen gut anzukommen und einen guten Eindruck zu hinterlassen. Die Wertschätzung durch die Umgebung verstärkt das Selbstbewusstsein und motiviert, uns zu engagieren und einzusetzen. Bei bestimmten Menschen mit Ich-Defiziten entwickelt sich diese Orientierung nach außen zu einer Abhängigkeit. Sie sind auf positive Rückmeldungen der Umgebung angewiesen, um das eigene Selbstwertgefühl zu regulieren. Sie entwickeln lähmende Ängste, weil sie meinen, dass ihnen diese Anerkennung und Zuwendung in bestimmten Situationen verwehrt bleibt. Tanja, 34 Jahre alt, ledig, ist Angestellte in einem Heim zur Betreuung von Demenzkranken. Jedes Mal, wenn sie mit anderen Menschen in Kontakt tritt und eine Bewertung ihrer Arbeit, ihrer Person oder ihres Verhaltens wahrscheinlich ist, bekommt sie panikartige Angstattacken. Das Herz rast, die Hände zittern, die Beine werden wackelig, sie hat das Gefühl, nicht richtig atmen und sprechen zu können. Ihr wird schwindelig und flau im Magen. Wenn sich das Team trifft, sitzt sie in den hinteren Reihen und beteiligt sich nicht an der Diskussion, aus Angst, sich zu blamieren oder etwas Unpassendes zu sagen. Auch als Kind hatte Tanja Schwierigkeiten, in Gruppen zu sprechen und ihre Hausaufgaben vor der Klasse vorzutragen. Prüfungssituationen waren für sie eine Qual. Ihre Abiturprüfung hat sie nur unter enormer Anstrengung absolvieren können. Nicht, weil das Lernen ihr schwer fiel, sondern weil sie Angst hatte, zu versagen, sich peinlich zu verhalten und von anderen als Versagerin betrachtet zu werden. Das Studium der Pädagogik gab sie auf, weil sie keine Referate vor Gruppen halten konnte. Gefragt nach dem Umgang der Eltern mit ihren schulischen Leistungen in der Kindheit, antwortete Tanja: »Eine gute Note war für meine Eltern etwas Selbstverständliches. Wenn ich aber eine schlechte Note nach Hause brachte, waren sie aufgebracht. Insbesondere meine Mutter. Sie hat mich als dumm und zu nichts nütze bezeichnet. Sie hat mich mit den Kindern ihrer Freundinnen verglichen und mir vermittelt, was für eine Schande ich für die Familie bin. Ab und zu hat sie mich wegen schlechter Leistung auch geschlagen.«

Tanja leidet unter einer sozialen Phobie. Die davon Betroffenen fallen kaum auf. Sie sind nett, freundlich, leben oft zurückgezogen. Sie fürchten sich, in sozialen, beruflichen und sonstigen Leistungssituationen kritisiert und abgelehnt zu werden. Meistens löst die bloße gedankliche Beschäftigung mit der Situation starke Angstsymptome aus.  Die Angst ist sehr stark, so dass sie solche Situationen vermeiden oder nur mit großem Unbehagen ertragen. Sie wissen, dass ihre Ängste übertrieben sind, können aber ihr Verhalten nicht kontrollieren. Im Vordergrund steht ihre Angst, dass die körperlichen Symptome, wie Erröten, Schwitzen und Zittern, von anderen wahrgenommen und negativ bewertet werden. Sie haben Angst, unangenehm aufzufallen oder mitten im Gespräch nichts mehr sagen zu können. Die zwischenmenschlichen Kontakte mit fremden Menschen oder mit dem anderen Geschlecht sind eingeschränkt, weil sie Angst haben, sich ungeschickt zu verhalten. Die Ängste treten stärker auf, wenn Interaktionen mit Personen stattfinden, die für das Selbstbewusstsein der Betroffenen,  wichtig sind. Sozialphobiker haben  es in unserer Ellenbogen-Gesellschaft schwer. Aus Angst, abgelehnt und nicht geliebt zu werden, können sie ihre Wünsche und Bedürfnisse nicht vertreten, sich nicht abgrenzen und Nein sagen.

Ursachen

Bei der Mehrheit der Sozialphobiker liegen frühkindliche Bindungsstörungen vor. Ohne elterliche Anerkennung ist ein gesunder Selbstwert nicht möglich. Die lähmenden Ängste im Erwachsenenalter entspringen einem niedrigen Selbstwertgefühl. Häufig haben die Betroffenen ihre Eltern als kontrollierend, überkritisch oder im Gegenteil überbehütend erlebt. Ablehnung, Abwertung und Kritik in der
Kindheit gehen in Fleisch und Blut über. Viele Betroffene leben sozial isoliert, obwohl sie sich so sehr nach Kontakten mit anderen Menschen und deren Zuwendung sehnen. Sie haben Schwierigkeiten, nach einem Partner zu suchen, aus Angst abgelehnt zu werden. Sie überfordern sich selbst und den anderen, indem sie schon beim ersten Treffen bedingungslose Akzeptanz erwarten, was häufig zu Enttäuschungen führt. Außerdem betrachten sie den Partner nicht selten als Retter, um die sozialen Ängste loszuwerden. Das kommt einer Überforderung der Beziehung gleich. Wenn sie sich in einer festen Beziehung befinden, versuchen sie die eigene soziale Unzulänglichkeit durch die Fixierung auf den Partner zu kompensieren, was wiederum häufig zum Scheitern der Beziehung führt. Die soziale Isolation mündet nicht selten in eine Depression. Die Angst vor Ablehnung und die negative Einstellung zu sich selbst führt bei vielen Betroffenen zu sexuellen Funktionsstörungen. Auch Kinder können soziale Phobien entwickeln. Sie äußern sich in Form von Schulphobie oder Prüfungsängsten. Die Ängste beeinträchtigen ihre Leistung. Trotz höherer Intelligenz schneiden die betroffenen Kinder in Prüfungssituationen schlecht ab. Eltern von Kindern ab dem 14. Lebensjahr sollten aufmerksam werden, wenn das Kind plötzlich vor jedem Schultag Beschwerden wie Bauch- und Kopfschmerzen bekommt. Dann kann soziale Phobie eine Ursache sein.

Therapie

Gefragt nach ihren bisherigen Bemühungen, mit ihren sozialen Ängsten zurechtzukommen, sagte Tanja: »Auf die Prüfungen habe ich mich tage- und nächtelang vorbereitet und alles bis ins Detail gelernt. Trotzdem waren meine Leistungen nicht immer berauschend. Wenn ich vor der Gruppe sprechen musste, habe ich dunkle weite Kleidung angezogen, damit die Leute mein Schwitzen nicht sehen. Um das Erröten zu vertuschen, habe ich mich immer stark geschminkt. Es war aber sehr schwierig, das Zittern und Erröten zu kontrollieren. In jeder Situation, wo ich etwas vortragen musste, war ich nur mit meinen körperlichen Reaktionen beschäftigt. Dadurch konnte ich mich auf mein eigentliches Vorhaben nicht konzentrieren. Mit der Zeit sind meine Ängste intensiver geworden. Ich war nicht mehr in der Lage, mich adäquat auf meine Referate und Prüfungen vorzubereiten.«

Der erste Schritt in der Therapie war, Tanja zu ermutigen, ihre Ängste zuzulassen und sie nicht mit aller Kraft zu kontrollieren. Bei der Therapie sozialer Ängste geht es nicht darum, ohne Angst zu leben, sondern trotz Angst das zu tun, was einem wichtig ist. Ständig gegen die Ängste anzukämpfen, führt nur zu Überforderung und verstärkt die Symptome. Tanja hat gelernt, ihren Ängsten offen zu begegnen und mit ihnen in Dialog zu treten. Die Akzeptanz der eigenen Ängste bedeutet nicht, vor ihnen zu resignieren, sondern auf die kräfteraubenden erfolglosen Kontrollversuche zu verzichten. Des Weiteren war es wichtig, Tanja darüber aufzuklären, dass die Angst als Gefühl zur Entstehung der vegetativen Reaktionen wie Zittern, Schwitzen und Erröten führt und dass diese körperlichen Reaktionen nicht kontrolliert werden können, weil sie eben vegetativ gesteuert sind. Tanja investierte, wie bereits beschrieben, viel Zeit und Mühe, ihr Erröten, Schwitzen und Zittern zu kontrollieren oder sich auf Gespräche und Leistungssituationen aufwendig vorzubereiten. Dies nennt man in der Psychologie »Sicherheitsverhalten«. Es verhindert spontane Erfahrungen und stabilisiert die Störung. Wenn die Betroffenen  in bestimmten Situationen erfolgreich waren, führen sie ihre Erfolge auf das Sicherheitsverhalten zurück und nicht auf ihre eigenen Kompetenzen.

Deshalb war es für Tanja wichtig, alle Maßnahmen, die der Angstreduktion in sozialen Situationen dienen, zu unterlassen. Die Erklärung der Zusammenhänge zwischen Gedanken, Gefühlen, Verhaltensweisen und physiologischen Reaktionen war notwendig, damit sie ihr Leiden versteht und den Sinn der eingeleiteten Therapieschritte nachvollziehen kann. Selbstverständlich muss im Rahmen der Therapie immer individuell vorgegangen werden. Der Therapeut muss mit dem Patienten gemeinsam herausarbeiten, ob tatsächlich soziale Defizite vorliegen oder nicht. Beim Vorhandensein dieser sozialen Defizite ist es ratsam, ein Training der sozialen Kompetenzen und Fertigkeiten in Betracht zu ziehen. Dies war bei Tanja nicht der Fall. Ihre Therapie bestand aus drei Elementen:

1. Stärkung des Ichs

Stärkung des Ichs und des Selbstwertgefühls durch Ausloten und Aktivieren der vorhandenen persönlichen Ressourcen. Gemeinsam haben wir uns auf die Suche gemacht, um folgende Fragen beantworten zu können: Was macht ihre Person aus, was sind ihre Stärken, ihre Schwächen, was hat sie bis jetzt in ihrem Leben gut gemacht? Was macht sie auch jetzt gut? Welche Rückmeldungen bekommt sie  tagtäglich in Bezug auf ihre Arbeit? Welche positiven Rückmeldungen bekommt sie außerhalb der Arbeit? Tanja konnte sich dadurch ein realistisches Selbstbild von sich machen und nicht nur auf die Defizite fixiert bleiben. Weiterhin wurde sie ermutigt, ihren Kollegen am  Arbeitsplatz Komplimente zu machen und zu loben. Am Anfang wurde das »Wie und Wann« in den Therapiesitzungen besprochen. Danach war es  wichtig, dass Tanja selbst experimentiert. Dadurch fällt es ihren Kollegen leichter, sie zu loben und ihr Komplimente zu machen. Durch die Aktivierung der eigenen Ressourcen konnte Tanja die Einsicht gewinnen, dass ihre Person auch liebenswerte Facetten umfasst. Es wurde eine gewisse Stabilität der Ich-Funktionen erreicht. Tanja hat angefangen, ihre negativen Denkmuster, wie zum Beispiel »Ich bin dumm und ungeschickt«, »Ich tauge sowieso nichts«, »Alle anderen sind attraktiver und kompetenter als ich«, zu hinterfragen, so dass wir zum nächsten Schritt übergehen konnten.

2. Konfrontation

Konfrontationstherapie nach dem Prinzip »Da, wo die Angst ist, da geht es lang«. Um unsere Ängste bewältigen zu können, müssen wir uns ihnen stellen. Vermeidung bewirkt deren Stabilisierung und ist für unsere persönliche Entwicklung hinderlich. Alle Situationen, die bei Tanja Angst auslösen, wurden herausgearbeitet: eine kleine Rede vor der Gruppe zu halten, eigene Meinung in der Gruppe zu äußern, Aufgaben zu übernehmen, die ihr ermöglichen, auch im Beisein ihres Chefs eine Rede vor der Gruppe zu halten.

Zwei Situationen waren für sie therapeutisch von besonderer Bedeutung: eine Rede vor den Arbeitskollegen und dem Chef vorzutragen und über die Schwierigkeiten im Arbeitsalltag vor dem Team im Rahmen der Supervision einen kleinen Vortag zu halten. Wir haben beide Situationen in den Sitzungen vorbereitet. Mit Tanja wurde vereinbart, dass sich die Vorbereitungen nur auf Therapiestunden begrenzen, damit sich daraus kein Selbstsicherheitsverhalten entwickelt. Tatsächlich konnte Tanja, anlässlich des 30-jährigen Jubiläums ihrer Firma, eine Rede von 10 Minuten vor  dem gesamten Team und im Beisein ihres Chefs halten.

Tanja beschreibt ihre Gedanken und Gefühle: »Ich war so nervös und habe am ganzen Körper gezittert. Am Anfang habe ich Schwierigkeiten gehabt, meine Gedanken zu sammeln und in Worten auszudrücken, aber nach einer Weile fühlte ich mich entspannter. Mein Zittern hat nachgelassen und meine Aufmerksamkeit war nur auf meine Rede fokussiert«. Dies ist ein normales Phänomen bei der Konfrontationstherapie. Anfangs steigt die Intensität der Angst stark, um nach einer Weile zu sinken, und die körperlichen Symptome der Angst lassen nach. Dies nennt man »Habituation«. Trotzdem war Tanja von ihrer Leistung nicht überzeugt. Deshalb habe ich sie gebeten, die Kollegen nach ihrer Meinung zu fragen. Dadurch konnte die Diskrepanz zwischen Selbst- und Fremdwahrnehmung herausgearbeitet werden. Sie konnte feststellen, dass sie sich selbst zu hohe Maßstäbe setzt, dass sie gar nicht so schlecht ist, wie sie denkt. Im Laufe der Therapie wurde Tanja ermutigt, sich spontan in ihrem Team zu äußern, ohne vorherige Vorbereitungen.

Jeder kleine Erfolg wurde im Rahmen der Sitzungen herausgestellt und unterstrichen. Tanja konnte in kurzer Zeit ihre neurotischen Ängste bewältigen.

Im Allgemeinen stellt die Konfrontation und die Änderung der negativen Denkmuster das Herzstück der Therapie sozialer Phobie dar, um den neurotischen Teufelskreis zu unterbrechen. Schon Freud forderte, dass sich Phobiker ihren Ängsten stellen müssen. Er sprach aus Erfahrung, weil er selbst seine Ängste durch Konfrontationen zu bewältigen gelernt hatte. Damit die therapeutische Arbeit in die Tiefe gehen kann, ist es wichtig, die Funktion dieser Ängste herauszufinden. Die neurotischen Ängste, und dazu gehört auch die soziale Phobie, sind ein Hinweis darauf, dass bestimmte Erfahrungen oder Konflikte im Leben nicht richtig verarbeitet wurden. Die Entwicklung der Symptome ist sozusagen die momentan bestvorhandene Bewältigungsstrategie der belastenden Konflikte und Erfahrungen.

3. Das innere Kind heilen

Das verletzte innere Kind heilen: Tanja konnte ihrer Mutter nicht verzeihen. Über die negativen Kindheitserfahrungen wird in der Familie im Allgemeinen nicht gesprochen. Die Mutter ist krank. Tanja kümmert sich um sie. Tanja: »Es kostet mich viel Kraft, so zu tun, als ob es nicht geschehen wäre. Jede Begegnung mit meiner Mutter erinnert mich an die Erniedrigungen und ihre Kaltherzigkeit in der Kindheit. Aber ich traue mich nicht, das Ganze anzusprechen, weil ich Angst habe, sie zu belasten oder dass unsere Beziehung nicht mehr funktioniert«. Nach Absprache mit Tanja habe ich die Mutter zu einer Sitzung zu dritt eingeladen. Tanja wurde ermutigt, ihre Kindheitserfahrungen zu thematisieren. Die Mutter war sehr bewegt, aber gleichzeitig überrascht. Sie erklärte, dass sie nicht wusste, dass ihr Verhalten solche tiefen Wunden hinterlassen hätte. Im Rahmen von drei Sitzungen haben Mutter und Tochter die negativen Erfahrungen reflektieren können. Der Prozess war schmerzhaft, aber notwendig, um die Beziehung auf solide Beine stellen zu können. Die Mutter hat sich mehrere Male entschuldigt und um Verzeihung gebeten. Die beiden haben sich versprochen, diese Erfahrungen weiterhin zu thematisieren. Ich glaube, sie sind auf dem richtigen Weg, eine versöhnliche Beziehung aufzubauen und neue korrigierende Erfahrungen zu machen.

Als ersichtlich war, dass Tanja aus der Opferrolle gekommen war und dass sie keine massiven Schwierigkeiten mehr hatte, sich in Gruppen zu äußern oder sich mit fremden Menschen zu unterhalten, wurde die Therapie beendet. Tanja kann sich jetzt selbst helfen und braucht keine fremde Unterstützung mehr, um ihren Alltag zu bewältigen. Sie denkt daran, ihr Studium wieder aufzunehmen.

„Der Gesundheitsberater“, Juli 2015