Zu Fuß kommt die Seele mit

Autor: Karl-Heinz Knebel (Heilpraktiker für Psychotherapie)

Stressabbau beim Spaziergang und Wandern

Es gibt drei Grundbewegungen des Menschen, die er aufgrund seiner evolutionären Entwicklung mitbringt: Räkeln – dies vor allem im Säuglingsalter –, Schwimmen wird zwar erlernt, die Fähigkeit ist dem Menschen aber angeboren, schließlich kommt das Leben aus dem Wasser, und das Gehen – die ureigenste Form menschlicher Bewegung. Durch das Gehen gelangte der Mensch auf seinen Wanderungen aus den afrikanischen Savannen in alle Ecken und Enden der Erde. Über Jahrtausende hinweg blieb er diesem »Spaziergang« treu. Erst vor etwa 12 000 Jahren begannen nach heutigem Wissen die ersten festen Siedlungen zu entstehen. Meist waren es religiöse Zentren, um deren Plätze feste Behausungen entstanden und Menschen sich dauerhaft niederließen. Bis heute resoniert dieses Wandern durch die Welt in seinem Verhalten. Unabhängig vom Alter, Geschlecht oder sozialem Status. Heute wird es Mobilität genannt.
In den letzten Jahrzehnten erlebte die Welt ein so nie gekanntes Ausmaß an Tourismus. Durch technische Errungenschaften wie das Auto, die Bahn und das Flugzeug boten sich Fortbewegungsmöglichkeiten an, schnell von einem Ort zu einem nahen oder weit entfernten Platz zu gelangen, ohne sich körperlich zu verausgaben. Laut einer Statistik waren 2019 zum Beispiel permanent und zeitgleich ca. eine Million Flugpassagiere in einem Flugzeug weltweit unterwegs. Erholung bedeutete für viele Menschen, weit weg auf eine Insel oder einen anderen Kontinent zu fliegen, um dort einige Zeit zu verbringen.

Waldbaden

Erst die Corona-Pandemie stoppte diesen Trend. Seitdem wächst das Interesse an der einheimischen oder mitteleuropäischen Natur und der Wunsch, diese zu durchwandern. Auch in den Städten zeichnet sich der Trend ab, durch deren Grünflächen, Parks oder am Rande gelegene Naherholungsstreifen spazieren zu gehen. Und sei es nur für eine kurze Dauer. Vor allem die Tourismusbranche nimmt erfreut diese Begeisterung für Spaziergang und Wandern wahr. Es werden Premiumwanderwege bestimmt, auf Hotspots aufmerksam gemacht und unter anderem das »Waldbaden« angepriesen. Alles digital ersichtlich und abrufbar auf dem Smartphone. Sicherlich ist vieles alter Wein in neuen Schläuchen – aber immerhin wird er getrunken.
Das »Waldbaden« zum Beispiel verkündet und vermittelt ein sinnliches Erleben mit einem hohen Entspannungseffekt. Und das ist durchaus so. Der Begriff kommt aus Japan. Dort leben Menschen in riesigen urbanen Zentren, wie Tokio, auf engstem Raum, umgeben von Asphalt, Beton und Glas. Hinein in die umliegenden bewaldeten Berge zu fahren, Stille aufzusuchen und sich in einer heißen Thermalquelle zu regenerieren, ist den stressgeplagten, mit wenig Freizeit ausgestatteten Japanern ein Quell der Erholung. Der Trend geht also zunehmend in ein nicht auf Leistung bezogenes Durchwandern der Natur, auf ein sinnlich genießendes Erleben der Natur, bei dem das Wahrnehmen der Erde, der Flora und Fauna, das Schmecken der Luft in den Vordergrund rückt.
Es darf durchaus mit Stolz darauf hingewiesen werden, dass gerade der Stuttgarter Großraum dem dafür aufgeschlossenen Menschen viel Möglichkeiten bietet. In der Stadt sind es die vielen anheimelnden Parks und die Vielzahl und Vielfältigkeit der Naherholungsgebiete um die Stadt herum. Vom Waldgebiet um den Bärensee bis hin zum Murrhardter und Schwäbischen Wald oder den Löwensteiner Bergen und dem Naturpark Schönbuch. Und wer es etwas deftiger möchte, kann sich auf der Schwäbischen Alb oder auf den Wanderwegen des Schwarzwaldes wiederfinden. Es bietet sich so viel Natur an, die auch mit öffentlichen Verkehrsmitteln erreichbar ist. Das Bemerkenswerte und zugleich Schöne ist, dass heute Menschen jeglichen Alters, in Gruppen, einzeln oder als Paare auf diesen Wanderwegen anzutreffen sind. Auch viele Familien mit Kindern. Es sind nicht nur Rentner oder Mitglieder eines Vereins unterwegs, wie in früheren Zeiten, die »typischen« Wanderer oder Spaziergänger aus Passion. Auch hat sich das Publikum »internationalisiert«. Ob auf den Wegen, in den Hotspots oder den Ausflugslokalen: Es vermischen sich vielfältig Englisch, Französisch, Deutsch, Japanisch, Chinesisch, um nur einige Sprachen zu nennen und geben dem erstaunten Zuhörer das Gefühl, in der weiten Welt beheimatet zu sein.

Von der Amygdala und dem Cortisolspiegel

Was aber macht den Spaziergang und das Wandern wieder so attraktiv? Kurz gesagt: Der Stressabbau – vom Dysstress zum Eustress. Dazu gibt es neue wissenschaftliche Studien für eine bessere psychische Gesundheit. Das Max-Plank-Institut (MPI) für Bildungsforschung in Berlin fand heraus, dass nach einem 60-minütigen Spaziergang in der Natur die Aktivität in den Gehirnregionen abnimmt, die an der Stressverarbeitung beteiligt sind. In einer Stadt zu leben sei schon nach bisherigen Studien ein Risikofaktor für psychischen Stress, während es für die psychische Gesundheit und das Gehirn von Vorteil sei, nahe an der Natur zu leben. Die Amygdala, auch Mandelkern genannt, Teil des limbischen Systems, ist an der emotionalen Stressverarbeitung des Menschen zentral beteiligt. So zum Beispiel bei der Angst- oder Aggressionsbewältigung. Es zeigte sich, dass bei Menschen, die in ländlichen Gebieten leben, die Amygdala weniger aktiviert ist als bei Menschen im städtischen Raum. Dies weist auf eine mögliche positive Wirkung der Natur hin.
Ob diese Effekte tatsächlich mit dem Umfeld der Menschen zu tun haben, untersuchte das MPI in Berlin mit Hilfe der funktionellen Magnetresonanztomographie (fMRT) bei gesunden Probanden vor und nach einem einstündigen Spaziergang im Grunewald oder auf einer Einkaufsstraße mit Verkehr in Berlin. Es zeigte sich, dass die Aktivität in der Amygdala nach dem Spaziergang in der Natur abnahm. Interessanterweise blieb die allgemeine Gehirnaktivität nach einem Stadtspaziergang aber stabil. Das Ergebnis deckt sich mit einer 2017 angefertigten Studie, die aufzeigte, dass Stadtbewohner, die am Rande eines Waldes lebten, eine physiologisch gesündere Struktur der Amygdala aufwiesen und daher vermutlich besser mit Stress umgehen konnten. Daraus wurde abgeleitet, dass es wichtig sei, mehr städtische Grünflächen zu schaffen, um die psychische Gesundheit der Stadtbevölkerung zu verbessern. Ein weiterer Marker für Stresslevel ist der Cortisolspiegel. Cortisol, auch als Stresshormon bezeichnet, wird in der Nebennierenrinde hergestellt und in der Leber abgebaut. Dauerhaft erhöhte Cortisolwerte werden mit Übergewicht, Herz-Kreislaufstörungen, Schwächung des Immunsystems, Depressionen und weiteren Erkrankungen in Verbindung gebracht.

Cortisolspiegel senken

Eine Studie der Universität Michigan, USA, aus dem Jahre 2019, ergab: Schon ein tägliches 20-minütiges Spazierengehen im Grünen vermindert das Level an Stresshormonen, vor allem das Cortisol, im menschlichen Organismus merklich. Die Untersuchung spricht von einer »Naturpille«. Gemeint sind damit mindestens drei Spaziergänge pro Woche in der Natur mit einer Dauer von zehn Minuten und mehr. Vor, während und nach dem Studienexperiment wurden die Cortisolwerte der Teilnehmer durch Analyse einer Speichelprobe bestimmt. Die Ergebnisse zeigten, dass bereits die kurzen Aufenthalte in einer Umgebung, die das Gefühl von Natur vermittelt, ausreichen, um effektiv den Cortisolspiegel im Körper zu senken.
Sicherlich sind die erwähnten wissenschaftlichen Studien nicht der einzige Grund und Antrieb, dass der Spaziergang und das Wandern an Popularität in den letzten Jahren gewonnen haben. So ist die »Wiederentdeckung« der Natur in unmittelbarer Nähe zum Teil auch den Umständen der Corona-Pandemie geschuldet. Und sicherlich sind es nicht die Hirnfunktionen alleine, die zu einem seelischen Ausgleich führen. Sich in der Natur aufhalten, vor allem für längere Zeit, führt zu einem Leerwerden im Kopf, zum verstärkten Wahrnehmen der Sinne und damit der Welt um sich herum. Es führt auch zu dem Wunsch, einfach an einem Platz zu verweilen und zu genießen, ohne mit seinen Gedanken in der Vergangenheit oder in der Zukunft zu sein. Auch die positive Wirkung auf den physischen Körper ist beachtlich.

Bessere Durchblutung und Atmung

Durch das gleichmäßige Gehen mit leichtem landschaftlichem Auf und Ab, wird die Durchblutung angeregt, kommt es zum Ausgleich im Herz-Kreislaufsystem, kann der Puls stabilisiert werden, die Atmung wird tiefer, findet Verdauung statt, wird der Stoffwechsel sanft stimuliert. Vor allem wird unsere gesamte natürliche Bewegung angesprochen, kann eine Lockerung durch den Körper gehen und die Körperhaltung sich ausloten.
Ein gesunder Aspekt sei noch erwähnt: Das natürliche Tempo. Da keine technischen Mittel eingesetzt werden, die eine Geschwindigkeit ermöglichen, die dem Menschen auf natürliche Weise nicht gegeben ist, bleiben Körper, Geist und Seele sozusagen beisammen. Es entsteht nicht ein Gefühl der Zerrissenheit. Wer kennt nicht den Satz: Ich brauchte mehrere Tage, um innerlich wirklich angekommen zu sein. Im Wandern oder Spaziergang in der Natur findet ein natürliches, Jahrmillionen altes Geschehen statt, in dem eine tiefe Kommunikation möglich wird, mit sich selbst, seinem Mitmenschen und der Natur. Der Mensch braucht das Du, das Gegenüber, um sich selbst zu sein. Dann findet sich alles, was er braucht und ihn mit dem Leben und der Welt verbindet. Anders ausgedrückt: Zu Fuß kommt die Seele mit!

–  Artikel aus „Der Gesundheitsberater“ – Ausgabe Mai 2024