Sind die Neuronen unser Schicksal? Ist das Gehirn der Strippenzieher unserer Entscheidungen? Sind Freiheit und das Ich eine Illusion? Das behaupten einige Neurowissenschaftler. Felix Hasler legt eine Streitschrift gegen diese Deutungsmacht der Hirnforschung vor. Titel: Neuromythologie.
Ist der freie Wille wirklich eine Illusion? In einem Gespräch des Magazins SPIEGEL (31/2007) zwischen dem Hamburger Philologen und Sozialwissenschaftler Jan Philipp Reemtsma und dem Bielefelder Hirnforscher Hans Markowitsch behauptet der Letztere, der Mensch sei völlig kausal bestimmt (determiniert): »Unser Handeln ist durch die Verschaltungen in unserem Gehirn determiniert. Viele davon sind stabil, andere verändern sich ständig im Wechselspiel mit der Umwelt, mit dem Werden und Vergehen von Neuronen und der Ausschüttung von Neurotransmittern. Das gibt uns das Gefühl, wir handelten aus freier Entscheidung. Tatsächlich spielt sich unsere Gehirntätigkeit in großen Zügen unbewusst ab, gesteuert durch das emotionale Erfahrungsgedächtnis. Der freie Wille ist eine Illusion.«
Die Schlussfolgerung ist folgenschwer. Markowitsch: »Wir identifizieren derzeit Mechanismen im Gehirn, die ein Verhalten hervorbringen können, das wir moralisch als böse, juristisch als strafbar bewerten. Neurowissenschaftlich betrachtet sind das Defekte, für die ein Delinquent nichts kann, weil sie angeboren sind oder meist in früher Kindheit erworben wurden.« Der Wissenschaftler Markowitsch beharrt auf seiner Erklärung des Bösen als einer gehirnphysiologischen Deviation (Abweichung). Es sei für ihn »vorstellbar«, dass beispielsweise bei den Gründungsmitgliedern der so genannten Roten Armeefraktion »Bader, Raspe, Ensslin eine spezifische Abweichung auf Hirnebene vorlag«. Schließlich: »In Zukunft wird man möglicherweise sehen, dass sich alle Hirne von Mördern in mindestens einer Determinante von Hirnen aller Nicht-Mörder unterscheiden und dass genau diese biologische Abweichung bedingt, dass jemand mordet.«
Der Neurozug
Der Einwand ist durchaus ernst zu nehmen. In der Philosophie gibt es eine Skepsis gegenüber dem freien Willen, der von den Stoikern über Spinoza bis zu Arthur Schopenhauer führt. Der niederländische Philosoph Baruch de Spinoza (1632 –1677) urteilt in seinem glanzvollen psychologischen Werk Ethik: »Es gibt im Geiste keinen absoluten oder freien Willen; sondern der Geist wird dieses oder jenes zu wollen von einer Ursache bestimmt, die auch wieder von einer anderen bestimmt worden ist, und diese wieder von einer anderen und so fort ins Unendliche.« Und natürlich wissen wir seit Darwin, Nietzsche und Freud, dass von einer absoluten Freiheit des Willens keine Rede sein kann. Soziale, körperliche und psychologische Hemmnisse reduzieren unsere Entscheidungsfreiheit. Nicht umsonst hebt das Strafrecht auf »mildernde Umstände« und die Rehabilitationsmöglichkeit des Delinquenten ab.
Durch die bildgebenden Verfahren der Kernspintomographen und damit die erstmalig gegebenen neurologischen Möglichkeiten, Gehirnaktivitäten in bestimmten Arealen nachzuweisen, hat die Leugnung der Willensfreiheit heute Auftrieb bekommen. Der Forschungsassistent an der School of Mind and Brain der Humboldt-Universität und Wissenschaftsjournalist Felix Hasler kritisiert den modernen Neuro-Determinismus als spekulative Neuromythologie. Eine ganze Fraktion von Gehirnforschern springt nach Hasler auf den »Neurozug« auf: »Die Nichtexistenz des freien Willens zu beweisen, biologische Marker für kriminelles Verhalten zu entdecken oder neuromolekulare Ursachen von Angst, Zwang und Depression zu finden: All dies traut sich die Hirnforschung unserer Tage mit großer Selbstsicherheit zu.« Er selbst war, wie er schreibt, lange Zeit überzeugt davon, »dass wir nur das Gehirn erforschen müssten, um uns selbst zu verstehen«. Inzwischen ist Hasler erschrocken: »Auffälligstes Anzeichen dieser wissenschaftsideologischen Ausrichtung ist die zunehmend außer Kontrolle geratene Praxis der (Über-)Verschreibung von Psychopharmaka.«
Aber beweisen die bildgebenden Verfahren (MRT) nicht die speziellen Orte der Empfindung und damit der Entscheidungszentren? Dokumentiert das MRT nicht, dass das Gehirn genau dort aktiv ist, wo mehr Energie stattfindet? Kann man nicht aus der Differenz zwischen Hirnaktivität und -passivität ein Gefühl exakter kennen? Hasler konstatiert: »Bildhaft gesprochen verhält es sich mit der Differenzmethode etwa so ähnlich, als wiege man eine Yacht mit Kapitän und dann die Yacht alleine, um herauszufinden, wie schwer der Kapitän ist«. Außerdem seien die Hirnaktivierungsmuster von Proband zu Proband außerordentlich verschieden.
Sind bestimmte Bewusstseinserfahrungen tatsächlich zu lokalisieren, ist die Frage. Hasler wendet ein: »Aber gibt es denn überhaupt spezifische, von anderen Hirnleistungen abgrenzbare neuronale Korrelate von Neid, Liebe, Moral oder Eifersucht? Existiert tatsächlich eine typische MRT-Signatur des Lügens? Oder sehen wir nur globale, unspezifische Hirnaktivierungsmuster, wie sie bei einer Vielzahl anderer Erfahrungen oder anderer experimenteller Situation gleich oder sehr ähnlich auftreten würden?«
Bin ich mein Gehirn?
Gehirnaktivierungen sind diagnostisch problematisch, sagt Hasler: »Ein paar Beispiele? Eine Aktivierung dieser Hirnregion findet man nicht nur bei frisch Verliebten und amerikanischen Wechselwählern, die Bilder von Hilary Clinton sehen, sondern auch wenn chinesisch-englische Zweisprachige bei der Wortbildung eine der Sprachen hemmen, wenn Frauen zwischen potentiellen Sexpartnern wählen müs-
sen, wenn Esssüchtige einen Schokolade-Milchshake vorgesetzt bekommen, wenn Männer an die eigene Sterblichkeit erinnert werden, wenn man Vegetariern Bilder von Tiermisshandlungen zeigt, wenn sich Optimisten positive Gegebenheiten vorstellen oder wenn man im MRT-Scanner gekitzelt wird.«
Ist es tragfähig, die eigene Persönlichkeit als Ergebnis chemischer und physikalischer Prozesse des Gehirns zu deuten? Ist das Gehirn Maß aller Dinge? Wird aus der Persönlichkeit eine »Gehirnlichkeit«? Bin ich nur noch ein Homo cerebralis? Entziehen sich seelische Prozesse nicht diesem neurologischen Reduktionismus? Stehen wir nicht wieder vor dem Dilemma des medizinischen Cerebrozentrismus, wie wir sie aus der unseligen »Gehirntod«-Definition der Harward Declaration von 1968 und ihrer Transplantationshintermänner kennen?
Die Libet-Experimente
Nun führen einige Gehirnforscher immer wieder Untersuchungen des kalifornischen Physiologen Benjamin Libet aus den frühen 1980er Jahren an. Dabei geht es um »Bereitschaftspotentiale«. Darunter versteht man eine mittels Hirnstrommessung dokumentierte Aktivität in bestimmten Großhirnarealen, die im Vorfeld von willkürlichen Bewegungen auftritt. Das heißt wenn ein Proband sich plötzlich entschloss, eine Hand zu bewegen, dann aktivierte sich die Hirnströmung im Durchschnitt 200 Millisekunden vor der Ausführung. Hatte also das Gehirn die Handlung schon vor dem subjektiv wahrgenommenen Beschluss eingeleitet? Hatte das Gehirn, nicht der Mensch, entschieden? Hasler: »Endgültig entmystifiziert wurden die ominösen Bereitschaftspotentiale unlängst durch die neuseeländischen Forscher Judy Trevena und Jeff Miller. In einer ausgeklügelten Reihe von Experimenten haben die Forscher von der University of Otago nachgewiesen, dass es in Bezug auf die Bereitschaftspotentiale gar keinen Unterschied macht, ob man beschlossen hat, eine Bewegung auszuführen, oder ob man sich entschieden hat, eine Bewegung nicht zu Ende zu machen. Die der (Nicht-)Handlung vorausgehenden EEG-Signaturen waren nicht zu unterscheiden.«
Man könnte diese ganze Diskussion um Freiheit oder Unfreiheit des Willens für akademische Spitzfindigkeit halten, wenn es nicht um die Konsequenzen ginge. Ähnlich wie der eingangs erwähnte Bremer Professor Hans Markowitsch reichen die Konsequenzen dieser Neuronen-Ideologie in den Alltag. Der Biologe Roth legt eine Reform der Strafprozessordnung im Sinne der generellen Unschuldsvermutung nah: »Eine Gesellschaft darf niemanden bestrafen, nur weil er in irgendeinem moralischen Sinne schuldig geworden ist – dies hätte nur dann Sinn, wenn dieses denkende Subjekt die Möglichkeit gehabt hätte, auch anders zu handeln als tatsächlich geschehen ist« (zitiert nach Hasler, S. 189). Inzwischen gibt es eine Neuro-Philosophie, Neuro-Soziologie, Neuro-Ethik, Neuro-Theologie, Neuro-Ökonomie, Neuro-Didaktik, Neuro-Marketing, Neuro-Recht, Neuro-Kriminologie, Neuro-Forensik, Neuro-Finanzwissenschaften, Neuro-Verhaltensforschung und Neuro-Anthropologie.
Haslers anschaulich geschriebenes Buch ist als Einführung in das Thema vorbehaltlos zu empfehlen. Wer als Arzt, Psychologe oder Lehrer eine umfassende wissenschaftliche Durchdringung und methodologische Auseinandersetzung dieses spannenden Komplexes benötigt, greife zu dem Standardwerk Die philosophischen Grundlagen der Neurowissenschaften des Neurowissenschaftlers Maxwell R. Bennett und seines philosophischen Universitätskollegen Peter M. S. Hacker (Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2010, 565 Seiten, 79,90 Euro). Auch sie warnen vor einer Neuromythologie. Nicht das Gehirn denke, fühle und entscheide, sondern der Mensch: »Nicht das Auge (geschweige denn das Gehirn) sieht, sondern wir sehen mit unseren Augen . . . Folglich hört auch nicht das Ohr, sondern das Lebewesen, dessen Ohr es ist. Die Körperteile eines Wesens gehören zu ihm als seine Teile, und psychologische Prädikate können nur dem ganzen Lebewesen zugeschrieben werden, nicht seinen konstituierenden Teilen.«
Erasmus kontra Luther
Die Diskussion um die Willensfreiheit ist, wie gesagt, uralt. Martin Luther (1483 –1546) leugnet in seiner Schrift De servo arbitrio, Vom verknechteten Willen, dass der Mensch kraft eingeborener Vernunft und Fähigkeit zum Guten selbstständig das Heil erlangen könne. Er meint, »dass wir nicht etwas Beliebiges nach eigener freier Willensentscheidung tun, sondern wie Gott es vorher gewusst hat«. Der Anhänger der augustinischen Prädestinationslehre (Vorherbestimmung zur Hölle oder Himmel) erfand dafür das Reittier-Bild. Der menschliche Wille sei genau in der Mitte zwischen Gott und dem Satan.
Er sei wie ein Reittier: »Wenn Gott draufsitzt, will und geht er, wohin Gott will. Wenn Satan draufsitzt, will und geht er, wohin der Satan will.« Der Mensch ist also nach Luther nicht autonom, sondern eine Marionette an der Schnur Gottes oder Satans. Der Humanist Erasmus von Rotterdam (1469 –1536) vertrat gegen Luther in seiner Streitschrift De libero arbitrio, Über den freien Willen, die Ansicht der menschlichen Entscheidungsfähigkeit. Erasmus argumentiert mit der Bibel: »Wieso hört man so oft ›Belohnung‹, wo es überhaupt keinen Verdienst gibt? In welchem Sinn wird der Gehorsam derer gelobt, die den Geboten Gottes gehorchen, und der Ungehorsam derer verurteilt, die nicht gehorchen? Warum wird in der Heiligen Schrift so oft das Gericht erwähnt, wenn es überhaupt keine Vergeltung für erdienst und Schuld gibt? Oder warum werden wir gezwungen vor den Richterstuhl zu treten, wenn nichts nach unserer Entscheidung aber alles aus reiner Notwendigkeit geschieht. Es stört auch jener Gedanke, wozu so viele Ermahnungen, so viel Gebote, so viel Drohungen, so viele Aufforderungen, so viele Vorwürfe nötig sind, wenn wir nichts tun, sondern Gott nach seinem unabänderlichen Willen alles in uns wirkt, sowohl das Wollen als auch das Vollenden.«
Der Wille changiert, so scheint es, zwischen Freiheit und Unfreiheit. Die Schriftstellerin Marie von Ebner-Eschenbach formuliert es in einem berühmt gewordenen Aphorismus so: »Sei deines Willens Herr und deines Gewissens Knecht«.