Alexithymie

Frage:
In einem Lehrbuch über psychosomatische Medizin stieß ich auf das Alexithymie-Konzept. Es fällt mir auf, dass dieses Störungsbild in der Öffentlichkeit kaum bekannt ist. Laut Literatur sollen etwa 10 Prozent der Bevölkerung hierzulande von einer »Gefühlsblindheit« betroffen sein. Wie entsteht Alexithymie? Wie äußert sie sich und was kann man dagegen tun?

Antwort:
Das Wort »Alexithymie« ist aus 3 Teilen zusammengesetzt. Die einzelnen aus dem Griechischen stammenden Wortteile »a-«, »he lexis« und »ho thymos« bedeuten sinngemäß übersetzt so viel wie »Unfähigkeit, die eignen Gefühle zu lesen«. Das Unvermögen zur emotionalen Resonanz, die Unfähigkeit, innere Erlebnisse mitzuteilen, sowie die Schwierigkeit, Gefühle wahrzunehmen, wird Alexithymie genannt. Eingeführt wurde der Begri¬ 1973 von zwei amerikanischen Psychiatern (Sifneos und Nemiah).
Dem Alexithymen ist es nicht möglich, seine innere Gefühlswelt wahrzunehmen und zu beschreiben. Er ist nicht in der Lage, seine eigenen Emotionen in Worte zu fassen. Jeder kennt Situationen, in denen es schwerfällt, Gefühle zu verbalisieren.
Die Alexithymie hat noch weitere charakteristische Kennzeichen: Die Gedankenabläufe sind einförmig, der Wortschatz ist verarmt.
Oft haben die Betroffenen ein mechanistisches Denken. Anstatt Gefühle mitzuteilen, äußern sie nur körperliche Symptome. Somatische Sensationen werden teils hypochondrisch bis ins Detail beschrieben. Auf der Gefühlsebene ist die Kommunikation stark eingeschränkt.
Der Patient bedient sich unbewusst gewisser Abwehrmechanismen (Verleugnung und Verdrängung). Aggressive Impulse werden abgewehrt und unterdrückt.
Da »psychisch krank« zu sein nicht gesellschaftsfähig ist (Krankheitsschuld, Krankheitsscham) und sich Schulmediziner mit Vorliebe auf die körperliche Läsion stürzen, gestaltet sich der therapeutische Zugang äußerst schwer. Komplizierend kommt hinzu, dass widersprüchliche Theorien über die Ursachen der Alexithymie entwickelt wurden:
Die Störung sei sowohl angeboren als auch erworben. Sie sei ebenfalls assoziiert mit Autismus oder einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung.
Einige Autoren sehen die Ursache in einer traumatischen Kindheit, andere Fachleute betrachten die Alexithymie als Risikofaktur für Depressionen und Angststörungen. Unabhängig von der Entstehungsgeschichte ist es wichtig, dem Alexithymen in der Therapie Geduld, Verständnis und wahre Anteilnahme zu schenken, damit Vertrauen und Sicherheit wachsen können. Denn mit jedem Symptom melden wir: Ich leide, mit mir stimmt etwas nicht. Etwas im Patienten schreit um Hilfe. Durch eine bedürfnisgerechte, einfühlsame therapeutische Begleitung (Lebensberatung) kann in einer hölzernen entfremdeten Existenz eine phantasievolle Seele geboren werden.
Therapieren heißt helfen. Verdrängte und verkümmerte Gefühle müssen vorsichtig von Schutt und Asche befreit werden.
Therapeuten und Ärzte haben die Pflicht, den Patienten zu verstehen. Es ist eine Kunst, die Bedürfnisse des Patienten zu erkennen. Wir müssen uns nicht nur fragen »Was hat der Patient?«, sondern »Was fehlt ihm?« Vielleicht ist echte Anteilnahme zu Beginn der Therapie wichtiger als hochtrabende, komplizierte Erklärungsmuster und Theorien.

Literatur
Psychosomatische Medizin, Springer, 3. Auflage
Psychosomatische Medizin, Urban u. Fischer, 6. Auflage