In der ärztlichen Beratung gilt es, immer wieder herauszufinden, welche Punkte in der Vergangenheit des Menschen von Bedeutung sind, obwohl sie ihm nicht bewusst sind.
Das Problem deckt sich mit der Frage: Wie kann Unbewusstes bewusst gemacht werden und wie kann aus der Fülle des Unbewussten gerade das bewusst gemacht werden, das für den Betreffenden und seine Haltung von Bedeutung ist?
Die Lösung geht von der Tatsache aus, dass das Unbewusste aus der Vergangenheit stammt, sogar mit ihr identisch ist. Ohne Durchleuchtung der Vergangenheit wird es daher unmöglich sein, die Zusammenhänge zu finden, und, was noch wichtiger ist, sie dem Kranken klar zu machen. Denn es ist oft der Fall, dass dem Arzt auf Grund seiner Erfahrung die Ursachen sehr schnell klar sind, dass er damit aber noch keine Möglichkeit hat, auch dem Kranken zu beweisen, dass Zusammenhänge zwischen bestimmten Verhaltensweisen und der Krankheit bestehen.
Das Wissen des Arztes wird ohne jeden Erfolg bleiben, wenn es ihm nicht gelingt, dieses Wissen dem Kranken in einem solchen Maße und auf eine solche Weise zu vermitteln, dass der Kranke selbst diese Zusammenhänge auch zu erkennen und anzuerkennen vermag. Zwar bedeutet diese Erkenntnisvermittlung noch nicht die Heilung, wie man früher eine Zeitlang annahm, sie ist aber unabdingbare Voraussetzung dafür.
Bekanntlich war Freud der Erste, der darauf aufmerksam machte, dass auch seelische Bereiche in der Krankenbehandlung zu berücksichtigen seien. Die daraufhin sich entwickelnden Methoden, die Seele zu durchforschen, wurden als Psychoanalyse bezeichnet. Und da beobachtet wurde, dass die Erforschung der Zusammenhänge zwischen innerseelischen Vorgängen und Krankheitssymptomen oft zur Heilung der Krankheit führte, war es verständlich, dass irrtümlich angenommen wurde, die Analyse, d. h. die seelische Durchforschung, reiche zur Heilung aus. Sie ist aber, wie gesagt, nur die Voraussetzung zur Heilung; häufig genügt aber das Bewusstmachen dem Kranken bisher verborgener Zusammenhänge, um den Weg zur Selbstheilung freizumachen. So kam es, dass eine Therapie anfangs als Analyse bezeichnet wurde. Erst später nannte man dieses Behandlungsverfahren Psychotherapie, die natürlich die Analyse voraussetzt bzw. mit einschließt.
Wir haben aber weiter oben schon begründet, weshalb auch der Ausdruck Psychotherapie Anlass zu Missverständnissen gibt und besser durch Lebensberatung oder etwas Ähnliches ersetzt wird. Für alle Krankheiten, die nur aus der Vergangenheit des Menschen verständlich sind, ist der Begriff „seelisch bedingt“ viel zu eng, und deshalb ist auch der Begriff der Psychotherapie (= Seelenbehandlung) nicht umfassend genug. Er passt nur für einen bestimmten Teil von Erkrankungen bzw. Behandlungen. Eine Behandlung, die die ganze Persönlichkeit umfasst, ist daher besser mit Lebensberatung gekennzeichnet.
Ich erlebe es immer wieder, dass Patienten eine psychotherapeutische Behandlung strikt ablehnen, wenn sie ihnen unter dieser Bezeichnung als notwendig angeraten wird. Findet aber bei diesen Patienten eine Lebensberatung statt, so stößt diese auf wenig Widerstand, wenn sie auch praktisch nichts anderes darstellt als eine Psychotherapie. Diese aus Vorurteilen entspringende Abneigung mancher Patienten gegen eine unter der Bezeichnung Psychotherapie stattfindende Behandlung hat mehrere Gründe.
Auf die Befürchtung des Kranken, dadurch vor den Mitmenschen als nicht richtig krank und als nur nervös abgestempelt zu werden, wurde schon zur Genüge hingewiesen. Es mögen aber auch unbewusste Überbleibsel aus der historischen Entwicklung eine Rolle spielen. Im Mittelalter galten die Geisteskranken als vom Teufel besessen, sie wurden wie Aussätzige behandelt und zu Schimpf und Schande als abschreckendes Beispiel in Käfigen auf öffentlichen Plätzen ausgestellt.
Eine krankhafte Störung im geistigseelischen Bereich wurde, der damaligen Vorstellung der Kirche entsprechend, eindeutig und offen moralisch abgewertet. Zum Teil mag die heutige Scheu, eine seelisch bedingte Krankheit zu haben, noch ein Rest dieser mittelalterlichen Einstellung sein.
Die Verdienste Freuds
Da aber Freud als Erster zugleich auch den Mut hatte, das Sexualleben in den Kreis seiner Betrachtungen einzubeziehen, und er dabei feststellte, dass sich bei Kranken häufig auch Fehlhaltungen auf diesem Gebiete finden, kam es anfangs in weiten Kreisen zu der schiefen Vorstellung, dass Psychoanalyse nichts anderes sei als ein Wählen im Sexuellen. Da vor Freud Erörterungen über sexuelle Probleme in der medizinischen Wissenschaft genauso wenig denkbar waren wie in der Gesellschaft, ist es verständlich, dass die Durchbrechung dieses Tabus durch Freud auf weite Kreise schockierend wirkte; ein Umstand, der in der heutigen, aufgeklärten Zeit kaum mehr verständlich erscheint.
Wenn man heute immer noch hört, Freud sei abzulehnen und überholt, da er das ganze Leben nur einseitig vom Sexuellen her gesehen habe, so stecken auch in dieser Auffassung erhebliche Irrtümer.
Freud hat nicht behauptet, dass alle seelischen Probleme ihren tiefsten Grund im Sexuellen hätten, sondern er wies auf bis dahin unbekannte Zusammenhänge zwischen Persönlichkeitsentwicklung und Sexuellen hin. Er brachte Beweise, dass Verdrängungen auf sexuellem Gebiet imstande sind, Krankheiten hervorzurufen.
Dr. M. O. Bruker: »Es ist ein großer Verdienst Freuds, dass er die Bedeutung des Trieblebens erkannt und seine Einbeziehung in die medizinische Betrachtungsweise fertig gebracht hat.«
Aber jeder Forscher, der etwas Neues entdeckt, steckt in der Gefahr, dass er von den anderen als monoman angesehen wird. Um dem Neuen zum Durchbruch zu verhelfen, ist der Entdecker in der Zwangslage, diesen Punkt von allen Seiten zu beleuchten, ihn in den Vordergrund zu stellen und solange in einseitig erscheinender Weise zu wiederholen, bis er genügend Beachtung gefunden hat. Dass dabei der falsche Eindruck entstehen kann, als sehe der Entdecker in eingeengtem Gesichtsfeld nur sein Problem und messe ihm übertriebene Bedeutung zu, ist verständlich.
Der Fehler liegt aber nicht bei dem Entdecker, sondern bei den Kritikern; sie übersehen oft, dass es unberechtigt ist, jemandem, der über Ameisen schreibt, den Vorwurf zu machen, dass er die Elefanten nicht genügend berücksichtigt habe.
Immerhin mag die einstige Auffassung, auch wenn sie nicht zu Recht bestand, Psychotherapie habe immer etwas mit Sexuellem zu tun, dazu beigetragen haben, die Scheu des Kranken vor allem, was mit Psyche = Seele zu tun hat, zu verstärken.
Natürlich hat heute das Sexuelle innerhalb der Psychotherapie seinen angemessenen Platz. Der Mensch ist auch ein Geschlechtswesen, aber er ist es nicht ausschließlich. Mangelhafte Entwicklung der Persönlichkeit kommt weniger aus dem Sexuellen, als dass sie sich auch in einer Störung des Trieblebens äußert. Die sexuelle Verdrängung ist also meist nicht die Ursache, sondern bereits Symptom einer sich nicht frei entfaltenden Persönlichkeit.
Quelle: DER GESUNDHEITSBERATER Ausgabe 1996-11