»Paare sind beim Übergang in die Familienphase zu sehr in die Mutter- und Vaterrolle geschlüpft, so daß sie sich nicht mehr als Frau und Mann gegenüberstehen. Der Preis dafür ist der Libidoverlust.«
Hans Jeliouschek, Lebensübergänge in der Paarbeziehung
Kleine Kinder – kleine Probleme, sagt man, große Kinder – große Probleme. Das ist wie bei den meisten Sprichwörtern nur die halbe Wahrheit. Was die Sexualität angeht, möchte ich den Satz umkehren: Kleine Kinder – große Probleme, große Kinder – k(l)eine Probleme. Ein Erlebnis aus der Praxis mag veranschaulichen, was ich damit meine.
Zu Beginn meiner therapeutischen Arbeit kam ein Paar, nennen wir sie Hildegard und Franz, zu mir, die mich irritierten. Genauer gesagt, Hildegard brachte mich aus der Fassung. Gekommen waren die beiden, weil „in der Liebe nichts mehr lief“, wie sie sagten. An Sex erinnerten sie sich nur noch wie an etwas Prähistorisches. Während zweier, jeweils anderthalbstündiger Sitzungen hatte Hildegard die meiste Zeit den Bub, nennen wir ihn das Fränzchen, an ihrer Brust und stillte ihn. Das heißt, Fränzchen nippelte etwas, spielte mit Mamas Brüsten wie mit Handbällen, zog ihr die Bluse nach Belieben rauf und runter und okkupierte Hildegard total. Ihre Aufmerksamkeit galt zu zwei Dritteln Fränzchen. Franz, der Ältere, ein schmächtiger junger Mann, dem man dicke Butterbrote und viel Fürsorge gewünscht hätte, saß gleichsam hungrigen Auges und hilflos bei der ganzen lnszenierung dabei. Fränzchen, das Stillkind, war, wie ich erfuhr, bereits zweieinhalb Jahre alt!
lch spürte, wie zunehmend Groll gegenüber der Situation im Allgemeinen und Hildegard im Speziellen in mir aufstieg. Einmal war eine Konzentration auf ein ruhiges Gespräch unmöglich. Aber das ärgerte mich nur vordergründig. Da war mehr. Unfreiwillig wurde ich als Mann immer wieder in das Schauspiel der entblößten Brüste hineingezogen. lch erlebte, wie dieses Kind jenseits des Stillalters den Busen der Frau in Besitz nahm. lch wurde unbewusst ausfällig gegen Hildegard und nahm – ein Kunstfehler jeglicher Paartherapie – einseitig für Franz Partei.
lrritiert über meine Gefuhle wie über meine Verletzung der therapeutischen Ausgewogenheit brachte ich den Fall in meiner Supervision vor. Das ist, was mich angeht, die monatliche Beratung mit meiner vorzüglichen Fachfrau und »Überseherin« (Supervisorin) Gisela Trost-Wiedemann in Düsseldorf. Wir wurden schnell fündig. lch hatte mit meiner Gefühlsreaktion durchaus nicht falsch gelegen. lch musste sie nur auf den Begriff bringen und therapeutisch fruchtbar machen: lch agierte in der Sitzung stellvertretend das Hin- und Hergerissensein, den hilflosen Zorn und die Irritation aus, die der liebe Franz seit zwei Jahren hinunterschluckte. Franz war der große Verlierer in jenem Kinderspiel, in dem aus der symmetrischen Dyade (Zweierstruktur, von altgriechisch „dys“, zwei) plötzlich eine Triade („tria“, drei) wird – eine Dreiecksbeziehung voller Spannung und Anspannung.
Zugunsten von Fränzchen, dem neuen Iibidinösen Objekt, verweigerte Hildegard dem fassungslosen Franz Brust und Zuwendung …
Das ist so neu nicht, aber jedes Paar erfährt den Vorgang mit gleicher Verblüffung: Kinder sind Liebeskiller. Da mag ein Martin Luther in seinen Tischreden noch so beredt die Idylle beschwören, »Kinder sind das lieblichste Pfand der Ehe, sie binden und erhalten das Band der Liebe« – ein Baby kann die physische Liebe des Paares an den Rand des Verhungerns bringen.
Ein Baby bedeutet das dramatische Zurückstellen der eigenen Bedürfnisse. Es hält Monate, Jahre und vor allem Nächte beide Eltern auf Trab. Während der von der Arbeit zurückgekehrte Mann abends Lust auf seine „süße junge Frau“ verspürt, verfällt die 24-Stunden-Mutter spätestens nach der Tagesschau in bleierne Müdigkeit. Je mehr der Kindsvater Fürsorgepflichten übernimmt, desto stärker wird auch er von dem herzigen „Vampir“ in den Windeln ausgesaugt. Das Paar vernachlässigt Freundschaften und Ausgehen. Die Glocke um das Paar wird undurchsichtig, schalldicht, sauerstoffarm.
Oft hat die zu Hause arbeitende Frau nur noch Kontakt mit anderen Müttern am Spielplatz und verödet innerlich. »Zwischen Waschmaschine und Sandkasten«, sagte mir einmal eine studierte Frau, »vertrottele ich langsam.« Für den Sex, das fröhliche Getümmel der Leiber und Seelen, ist in dieser triangulären Konstellation keine Zeit mehr. Aber auch die psychische Bereitschaft zur zwecklosen Liebe fehlt, vor allem bei den jungen Frauen. Denn das Baby absorbiert ja nicht nur negativ die mütterliche Freizeit und die möglichen Liebesnächte, sondern es sättigt auch positiv die Liebesbedürfnisse der jungen Mutter.
Der Vater ist bei dieser libidinösen »Objektverschiebung« ausgeschlossen. Er schwankt zwischen Verständnis und Wut. Wohin soll er mit seinem sexuellen Verlangen? Soll er sich ständig selbst befriedigen? Soll er ins Bordell? Soll er sich »zusammenreißen und kalt duschen« wie in katholischen Internaten?
Die jungen Mütter, die ihre Männer abweisen, bemitleiden sich erfahrungsgemäß eher selbst und lassen sich auch von Beraterinnen ungern zu einer Änderung ihres Verhaltens bewegen. Die Zahl von außerehelichen Flirts und sexuellen Außenkontakten nimmt in dieser Phase, wie alle Paarberater wissen, eklatant zu, ebenso die Ehekrisen. Die »delinquenten« Männer sind dabei nicht nur einfach »Schweine«, auch die hilflosen Frauen haben ihren Anteil an dem psychischen Desaster. Paare degenerieren in dieser Umbruchphase sozusagen in die Mami- und Papi-Rolle, diagnostiziert Hans Jellouschek, »so daß sie sich nicht mehr als Frau und Mann gegenüberstehen. Der Preis dafür ist der Liebesverlust.« Der Preis ist hoch, aber nicht unvermeidlich.
»Viele Ehekonflikte haben ihre Wurzeln in den Veränderungen, die durch Schwangerschaft und Geburt auf ein Paar zukommen«, warnt Dr. Claus Buddenberg, berühmt durch sein Werk »Sexualberatung« (1987). Das Baby wird zum Konkurrenten, vor allem aus der Sicht des Mannes. Die Frau wiederum fühlt sich als Prellbock zwischen zwei geliebten Wesen. Der Konflikt ist existentiell.
Wer sich nicht klarmacht, daß mit dem Kind die alte Beziehung auf Jahre hin zu Ende ist und er/sie die bisherigen Bedürfnisse und Wünsche dramatisch zurückstellen muß, der rutscht in eine Krise, die das Ende der Partnerschaft bedeuten kann. Der Arzt Claus Buddenberg meint: »Selbst wenn Sie abends müde im Bett liegen und mit Ihrem Partner Zärtlichkeiten austauschen, können Sie niemals sicher sein, ob Sie nicht von einer zahnenden Tochter oder einem sensiblen, aus dem Schlaf geweckten Sohn gestört werden. lch möchte daher bewußt etwas provozierend feststellen: Kinder sind Sexualhemmer.« Kinder, die kommen, schränken überdies die Liebes- und Lebensformen, mit denen wir gerade zu experimentieren beginnen, rücksichtslos ein. Das schafft Frust und Verdruß.
Männer machen sich in dieser Situation gerne klammheimlich vom Acker. Sie reichen sozusagen die innere Kündigung ein. Das ist mit Sicherheit der falsche Weg. Man muß es noch sagen: Je mehr Männer sich den »Arbeitsplatz Kind« (Barbara Sichtermann) mit ihrer Partnerin teilen, desto mündiger gestalten sie die Situation, auch zu ihren eigenen Gunsten.
Generell ist Eltern in dieser Situation zu raten, sich, wo immer es geht, zeitliche Aushilfe durch Babysitter, Halbtagsmütter, Großeltern, Freunde zu holen und sich mit »sacro egoismo«, mit heiligem Egoismus, einen Freiraum für sich, d.h. ohne Kind, zu schaffen. Ein einziger Kinogang, ein einziger Saunabesuch, ein einziger freier Nachmittag zum Klönen und Schmusen pro Woche kann wahre Wunder wirken. Daß ein Kind rund um die Uhr alle Aufmerksamkeit der Eltern braucht, ist eine knüppeldicke Ideologie. Ein Kind profitiert im Gegenteil von der lebendigen Gegenwart und Animation anderer »Bezugspersonen«, Erwachsenen und Kinder.
Paare, die den Kulissenwechsel der Lebensbühne bei der Geburt eines Kindes realistisch ins Auge fassen und sich die Mühen und seelischen Ambivalenzen der neuen Situation nicht verschweigen, haben gute Chancen, auch diese Sahelzone vorübergehender sexueller Versteppung zu überleben. Die Wüste lebt! Serengeti darf nicht sterben!
Wer allerdings wie Hildegard und Franz das geliebte Scheusal Fränzchen noch im dritten Lebensjahr Nacht für Nacht im »Gräbele« des Ehebetts, wie die Alemannen sagen, schlafen läßt, der soll sich über dieses Antisexualhormon auf zwei Beinchen nicht wundern. Ein Trost ist gewiß: Kinder werden älter, und Sexualität läßt sich, wie Sport oder Klavierspielen, durchaus nachholen.
Sex ist, wenn man trotzdem lacht.
Quelle: DER GESUNDHEITSBERATER Heft 8-1996