Die Geschichten hinter dem Lockdown Nr. 09: „Und dann sangen sie nicht mehr“

Anonymer Erfahrungsbericht – der Name ist der Redaktion bekannt.

Ich arbeite seit 18 Jahren in einer evangelischen Kindertagesstätte mit drei Kindergarten- und einer Krippengruppe. Meine beiden Gruppenkolleginnen und ich sind ein eingeschworenes Team.

Mich ereilte die Corona-Krise wie ein Schock: Am 15. März feierte ich, wie geplant, meinen 60. Geburtstag. Am Morgen des 16. März wurden eine meiner Kolleginnen und ich von der Kita-Leitung gleich wieder heimgeschickt, da wir der Risikogruppe angehören. Ich – die mit Abstand Gesündeste (ich habe eine Ausbildung zur ärztlich geprüften Gesundheitsberaterin GGB) des ganzen 20-köpfigen Teams! Was für eine Demütigung, aber es durften ja eh‘ keine Kinder kommen.

Die nächsten Wochen vergingen mit „Home-Office“, Abbau von Urlaubstagen und Überstunden. Die jüngeren Kolleginnen brachten das Haus auf Vordermann, die Köchin nähte viele, viele Schutzmasken.

Prüfung auf Systemrelevanz

Nach und nach wurden einzelne Kinder – streng nach „Systemrelevanz“ geprüft – gebracht. Sie wurden mit Mundschutz an der Haustür zur vereinbarten Zeit, nur für die Dauer der Arbeit, abgegeben bzw. abgeholt.
Dies führte zu merkwürdigen Situationen. Wie fühlt sich ein Einjähriger, der ganz allein mit einer Erzieherin in der Gruppe ist? Mit anderen (aus dem Kitabereich) spielen darf er ja nicht, die Kinder sollen nicht vermischt werden… Das meiste Spielzeug, auch das geliebte Bällchenbad, ist weggeräumt, schließlich muss desinfiziert werden, was die Kinder berührt haben.

Die von mir begonnene, sich so schon schwierig gestaltende Eingewöhnung eines zweijährigen Mädchens musste unterbrochen werden und wurde dann von einer jungen Kollegin weitergeführt. Wie fühlt sich dieses Kind, mit Mundschutz an der Haustür übergeben?

Videos mit Lieblingsliedern

Nach und nach kamen mehr Kinder, ich wurde gebraucht und vorsichtig angefragt. Eine Unterschrift unter eine „Belehrung“ und auf eigene Verantwortung (wie denn sonst?) und ich konnte wieder einsteigen. Um den Kontakt zu den Familien, die noch nicht kamen, zu halten, erstellte ich mit einer Kollegin Videos mit unseren Lieblingsliedern und -spielen. Zu Hause wurden diese Videos zum Teil in Dauerschleife angeschaut. Kinder, die in dieser Zeit Geburtstag hatten, wurden besucht (nur draußen!). Das löste große Freude aus, war für mich aber immer mit einem mulmigen Gefühl verbunden („Passt auf, dass die Kinder nichts anfassen und gleich Hände waschen, wenn ihr wieder da seid…“).

Die Trennung der „Systemrelevanten“ von den anderen dazugekommenen Kindern führte zu neuen Gruppenkonstellationen. Das Außengelände wurde mit Absperrband abgetrennt, jeder hatte nur einen kleinen Teilbereich zur Verfügung. Unser Eingewöhnungskind durfte nicht mit seiner Schwester spielen, gute Freunde wurden getrennt.

Zum Glück war das Wetter gut, denn es durften auch keine Nebenräume, der Turnraum und der Flur, genutzt werden.

Maskentragen beim Wickeln

Die wöchentliche Dienstbesprechung per Zoom-Konferenz drehte sich um immer neue und ausgefeiltere Hygienepläne, bis hin zum Maskentragen beim Wickeln (das „vergesse“ ich meistens…). Das von uns angebotene Frühstück mussten wir einstellen. Kein Tischdecken und Brotschmieren mehr. Der Träger und insbesondere die Leitung sind sehr vorsichtig. Für mich war das Schlimmste das Sing-Verbot. Unser sangesfreudiges Grüppchen (eigentlich 12 Kinder) guckte dann auch erstmal irritiert, als das Morgen-Begrüßungslied gesprochen wurde, es keinen Singkreis mehr gab, sondern nur noch Reime und Fingerspiele oder Kinderlieder von der CD. Kein „La-le-lu“, kein „Heile-Gänschen“…  Ich musste beobachten, wie die Kinder im Rollenspiel das Begrüßungslied auch sprachen und das Singen einfach einstellten – sehr traurig!

Es ist erstaunlich, wie die Eltern sich allen Auflagen fügen und die Kinder („ach, das ist wegen Corona…“) die ganzen Einschränkungen hinnehmen. Zurzeit haben wir Ferien. Mal sehen, wie’s danach weitergeht.

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