Zeit für Entschleunigung

Corona Immunsystem Tipp06 Entschleunigung

Corona Immunsystem Tipp06 Entschleunigung

Unser Tipp Nummer 6 zur Stärkung des Immunsystems beleuchtet einen lebensbedingten Aspekt. Denn auch die Beschleunigung, Hektik und Zerstreutheit der heutigen Zeit können, unter anderem über das Ausschütten von Stresshormonen, zu einer Schwächung des Immunsystems führen. Unser Gestalttherapeut und Philosoph Dr. Mathias Jung erklärt deshalb im heutigen Beitrag, wie gerade die erzwungene Isolation zu einer Zeit der Rückbesinnung und der heilsamen Entschleunigung werden kann.

Corona: Die Zeit ist mein Besitz!

„Ich habe keine Zeit!“ Das ist der Schlachtruf der Moderne. Was ist mit der Zeit los? Selbst unsere Taschentücher heißen TEMPO-Taschentücher. Unser Alltag wird vom Terminkalender unserer Smartphones und Notebooks bestimmt. Wir haben keine Ruhe und Muße mehr. Burnout ist die epidemische seelische Erkrankung, melden die Krankenkassen. Beschleunigung heißt die Parole des Globalismus und seiner hemmungslosen  Wachstumsideologie. Das Wochenmagazin DER SPIEGEL meldete bereits vor einem Jahrzehnt (29/2010): „Aufwachen, den Computer einschalten, neue Mails lesen. Stets erreichbar sein, übers Handy oder über das elektronische Postfach – es scheint, als habe der Mensch etwas Bedeutendes verloren: Die Fähigkeit zur Muße.“

Was ist aus Goethes Wort im westöstlichen Divan geworden:

„Mein Erbteil wie herrlich
weit und breit.
Die Zeit ist mein Besitz,
mein Acker ist die Zeit.“

Seit Corona besitzen wir die Zeit – zwangsverordnet. Bietet das andererseits nicht die Chance, der allgegenwärtigen Raserei der Beschleunigung eine Philosophie der „Entschleunigung“ entgegenzusetzen: Atempausen für Gespräche und gemeinsame Spiele, Innehalten und Nachdenken, Zärtlichkeit und Eros. Der Philosoph und Bürgermeister von Bordeaux Michel de Montaigne (1533 – 1592) erkannte in seinen weltberühmten „Essays“ grundsätzlich: „Die Nützlichkeit des Lebens liegt nicht in der Länge, sondern liegt im Gebrauch. Mancher hat lange gelebt, der wenig gelebt hat. Geht deshalb achtsam mit dem Leben um, solange Ihr da seid. Ob Ihr genug gelebt habt, hängt von Eurem Willen ab, nicht von der Zahl der Jahre!“ Das, so scheint mir, ist die Frage von Tod und Leben und nicht das Grippevirus. Denn hier entscheidet sich die wahre Schicksalsfrage.

Was also in der Zeit der verordneten Quarantäne tun? Das weiß jeder von uns selbst: Einen Sonnenuntergang bewundern. Langsam barfuß durch das betaute Gras gehen. Den Garten bepflanzen. Sich versenken in ein Buch. Musik hören. Ein Wochenende im Bademantel verbringen. Ein Musikinstrument spielen. Gemeinsam singen. Malen. Ballspielen, Basteln. In der Sonne liegen. Endlich lange ausschlafen. Denn was man dem Schlaf raubt, holt sich die Krankheit zurück. Ein entspannendes Bad genießen. Meditieren. Tagebuch schreiben. Yoga üben. Freundinnen, Freunde, Geschwister, Eltern anrufen. Genussvoll vollwertig kochen. Kurz: sich Zeit lassen. Verliert man nicht die meiste Zeit genau damit, dass man Zeit gewinnen will? So ist ein Tempolimit auf den Autobahnen in Deutschland, im Gegensatz zur Schweiz, immer noch nicht durchsetzbar. Lieber nimmt die Politik Unfallzahlen in Kauf, welche die Corona-Toten um ein Mehrfaches übersteigen…

Es ist nicht zu wenig Zeit, die wir haben, sondern es ist zu viel Zeit, die wir, Opfer unserer Hektik, nicht nützen. Halten wir es mit dem kritischen Theologen und von den Nazis ermordeten Widerstandskämpfer Dietrich Bonhoeffer:

„Da Zeit das kostbarste,
weil unwiederbringlichste Gut ist,
über das wir verfügen,
beunruhigt uns bei jedem Rückblick
der Gedanke etwa verlorener Zeit.

Verloren wäre die Zeit,
in der wir nicht als Mensch gelebt,
Erfahrungen gemacht,
gelernt, geschaffen, genossen
und gelitten hätten.“

Autor: Dr. Mathias Jung, Gestalttherapeut und Philosoph