Laborwerte

Frage:
Ich habe gehört, dass Sie der Blutanalyse keine große Bedeutung beimessen. Helfen die Blutwerte nicht, Krankheiten zu entdecken?

Antwort:
Die gezielte Bestimmung spezieller Laborparameter kann in Einzelfällen sinnvoll und wichtig sein. Natürlich bin ich nicht generell gegen die Erhebung solcher Daten. Doch der Mensch ist mehr wert als sein Laborwert! Die etablierte Medizin leidet ohnehin darunter, dass sie den Patienten nur noch als Maschine betrachtet, die bei einem Defekt zu reparieren ist. »Quid est homo?« Was ist der Mensch? Der Mensch wird in einer entseelten Medizin ausschließlich in Zahlen ausgedrückt. Nach einem Paradigmenwechsel könnte es aber heißen: »Quis est homo?« Wer ist der Mensch? Der Mensch als Persönlichkeit oder anders formuliert, der Mensch als unverwechselbares Individuum. Das Fachgebiet der klinischen Chemie gewann in den letzten Jahrzehnten immer mehr an Bedeutung, leider auf Kosten der gründlichen körperlichen Untersuchung des Patienten.

In der Interpretation von Laborbefunden stecken natürlich auch Fehlerquellen. Es gibt eine patientenorientierte Diagnose, die mit der Labordiagnose nichts gemeinsam hat.

Die durch Blutanalyse erhobenen Parameter sind allenfalls ein Puzzlestein, der die Verdachtsdiagnose erhärten kann. Die Verschiebung eines Laborwertes ist schon ein Folgezustand und niemals die Ursache für eine Erkrankung. Mit den im Labor erstellten Resultaten darf der Arzt nicht die Entstehung einer Krankheit erklären. Leider werden Zahlenwerte in der modernen Medizin überinterpretiert. Gewöhnlich werden in einem blinden Schematismus beim ersten Routinelabor 10 – 20 Blutwerte erhoben. Dieses Vorgehen gleicht einer Schrotschussmethode. Oder: Auch ein blindes Huhn findet mal ein Korn!

Namhafte Vertreter der Laboratoriumsmedizin sehen in dem unkritischen Einsatz einer Vielzahl von Laboruntersuchungen eine Gefahr. Das Spektrum an Analysemethoden wächst immer weiter, so dass es bis heute schon über 1000 Laboruntersuchungen gibt. Wichtig ist, dass für bestimmte Fragestellungen die angemessene Laboruntersuchung ausgewählt wird.

Die empfohlenen Normbereiche (Referenzbereiche) haben keine Allgemeingültigkeit. Patienten, die angstvoll auf Normgrenzen starren, sind kaum erfolgreich zu therapieren. Darf man die Abweichung von der Norm mit Krank sein gleichsetzen? Bedeuten Normalwerte gleichzeitig Gesundheit?

Viele Patienten bringen dicke Befundmappen (DIN-A4-Ordner) mit in die Sprechstunde. »Ich habe meine Werte mitgebracht, Herr Doktor.« So habe ich es schon zigfach in der Praxis erlebt. Doch im Zentrum der Betrachtung muss der Mensch stehen, der ganze Mensch als Leib-Seele-Geist-Einheit. Es ist ungenügend, den Menschen als einen Behälter gefüllt mit Cholesterin, Blutglucose, PSA, Harnsäure, Magnesium, Homocystein, Vitamin B6, Eisen, Rheumafaktoren und Schilddrüsenhormonen etc. zu betrachten. Der Arzt sollte dem Patienten dadurch gerecht werden, dass er sich für seine Einmaligkeit interessiert.

Literatur: Labor und Diagnose, TH-Books, 7. Aufl.

Autor: Dr. med. Jürgen Birmanns